Fachbeitrag
Massenverfahren – nichts mehr wie bisher?
Der Beitrag wurde am 24. Juli 2023 im Versicherungsmonitor erstveröffentlicht.
Massenverfahren erleben spätestens seit dem sogenannten Diesel-Skandal Hochkonjunktur. Auch die Versicherungswirtschaft war jüngst im Bereich der Betriebsschließungsversicherung mit einer Vielzahl gleichgelagerter Inanspruchnahmen konfrontiert – und ist es teilweise immer noch. Mit einem vor kurzem veröffentlichten Gesetzentwurf möchte das Bundesministerium der Justiz nun einen Rahmen für die möglichst effiziente Erledigung solcher Verfahren schaffen.
Diesel-Skandal, Betriebsschließungswelle, Finanzskandale – sogenannte Massenverfahren beschäftigen die Justiz mehr als je zuvor. Von Massenverfahren spricht man in der Regel immer dann, wenn in einer Vielzahl von Fällen die geltend gemachten Ansprüche auf weitgehend gleichgelagerte Sachverhalte gestützt werden und dementsprechend auch die sich stellenden Rechtsfragen deckungsgleich sind. Eine konkrete Untergrenze, bei deren Erreichen ein Massenverfahren vorliegt, gibt es zwar nicht. Einen Anhaltspunkt mag in diesem Zusammenhang aber das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) liefern, dessen Anwendungsbereich bei mindestens zehn gleichgerichteten Inanspruchnahmen eröffnet ist. Nach oben hin gibt es derweil scheinbar keine Grenzen. Beim Diesel-Skandal lag die Anzahl der Einzelklagen sogar im deutlich sechsstelligen Bereich.
Dass Massenverfahren eine erhebliche Belastung für die Justiz darstellen, liegt auf der Hand. Werden die ohnehin häufig schon überlasteten Gerichte zusätzlich zum normalen „Tagesgeschäft“ auch noch mit massenhaften Einzelklagen konfrontiert, stellt sie das nicht selten vor Probleme. Schwierigkeiten bei der Fallbearbeitung bereitet zudem der Umstand, dass Massenklagen, die sich in aller Regel aus Textbausteinen zusammensetzen, eher Romane als Kurzgeschichten sind.
Es ist den Gerichten daher nicht zu verdenken, wenn sie Massenklagen, die bei ihnen eingehen, nicht mit oberster Priorität behandeln. Dies kann nämlich nicht nur eine kurzfristige Arbeitsersparnis bedeuten, sondern kann unter Umständen sogar dazu führen, dass sich die Angelegenheit insgesamt in Wohlgefallen auflöst. Wenn es nämlich erstmal ein gleichgelagertes Parallelverfahren, das bei einem anderen Gericht anhängig ist, bis zum BGH geschafft hat, kann alles ganz schnell gehen. Denn entweder führt die höchstrichterliche Entscheidung zu Klagerücknahmen beziehungsweise Vergleichsabschlüssen, oder die Angelegenheit kann durch Verweis auf die BGH-Rechtsprechung ohne größeren Aufwand entschieden werden.
Aber auch ein anderes Szenario ist denkbar und in der Praxis häufig zu beobachten: Werden Klagen von verschiedenen Gerichten entschieden und kommen sie dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen, droht ein uneinheitliches Bild in der Instanzrechtsprechung. Betriebsschließungs-Versicherer kennen das zur Genüge.
An dieser Stelle setzt nun ein Gesetzesentwurf des Bundesministeriums der Justiz an, der vom 14. Juni 2023 datiert. Danach soll ein sogenanntes Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof eingeführt werden. Kommt es in einem Massenverfahren zur Revisionseinlegung, soll dem Bundesgerichtshof die Möglichkeit eröffnet werden, eines der bei ihm anhängigen Verfahren auszuwählen und im Rahmen dieses Verfahrens die relevanten Rechtsfragen in Form einer Leitentscheidung zu beantworten – beispielsweise die richtige Auslegung einer streitentscheidenden Vertragsklausel. –
Die Entscheidung soll auch dann ergehen, wenn die Parteien die Revision zurücknehmen oder sich das Revisionsverfahren auf anderer Weise erledigt. Zwar ist die Leitentscheidung für die übrigen bei den Instanzgerichten anhängigen Einzelklagen nicht formal bindend, sie soll den Instanzgerichten aber Leitlinien an die Hand geben, wie die Fälle – vorbehaltlich einzelfallbezogener Besonderheiten – zu entscheiden sind. Damit ist zugleich die Hoffnung verbunden, dass Anspruchsteller, die sich bislang noch nicht zu einer Klageerhebung durchgerungen haben, von einer solchen abgehalten werden, sofern der Bundesgerichtshof eine für sie ungünstige Rechtsauffassung vertritt. Umgekehrt wäre dann die Erwartung an die Inanspruchgenommenen, dass sie den Forderungen der Anspruchsteller nachkommen oder sich zumindest mit diesen gütlich einigen, sofern sich der Bundesgerichtshof im Sinne der Anspruchsteller positioniert.
Ob der Gesetzentwurf tatsächlich dazu beitragen wird, das Phänomen der Massenklagen einzudämmen, bleibt abzuwarten. Zum einen muss ein Verfahren ja überhaupt erst einmal bis zum Bundesgerichtshof gelangen, was mitunter ein weiter und vor allem langwieriger Weg sein kann – etwa, wenn es der Durchführung einer Beweisaufnahme bedarf. Zum anderen hat diejenige Seite, die eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes fürchtet, die Möglichkeit, es überhaupt nicht zu einer Revision kommen zu lassen und so ein Leitentscheidungsverfahren zu verhindern. Man muss daher kein Prophet sein, wenn man die These aufstellt, dass Massenverfahren die Justiz auch in Zukunft in erheblichem Umfang beschäftigen werden.