Update Beihilferecht Dezember 2020
Rechtsprechungsübersicht EuG/EuGH in der zweiten Jahreshälfte 2020
Die europäischen Gerichte haben in den letzten Monaten wieder zahlreiche Entscheidungen zum Beihilferecht getroffen. Die folgenden Entscheidungen behandeln die Kriterien zur Bestimmung einer für eine DAWI erforderlichen Nebentätigkeit, die Klassifizierung eines Unternehmens als KMU bei Kontrolle durch staatliche Stellen, den Zeitpunkt der Gewährung einer De-minimis-Beihilfe sowie unter welchen Umständen Gelder als staatliche Mittel zu betrachten sind.
EuGH, Rs. C-817/18 P – Kriterien zur Bestimmung von für eine DAWI erforderlichen Nebentätigkeiten
Die Entscheidung des EuGH in dem Verfahren C-817/18 P vom 3. September 2020 behandelt den Umgang mit Nebentätigkeiten von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse („DAWI“) . Das Verfahren beruht auf einer Klage auf Nichtigerklärung eines Beschlusses der Europäischen Kommission in zweiter Instanz. Die Europäische Kommission hatte ursprünglich in dem Verfahren SA.27301 entschieden, dass die finanzielle Unterstützung von privaten Naturschutzorganisationen für den Erwerb von Land mit dem Ziel der Naturerhaltung eine Beihilfe darstellte. Zwar sei die Hauptaufgabe der Naturerhaltung keine wirtschaftliche Tätigkeit, die Nebentätigkeiten wie Holzverkauf, Verpachtung von Jagdrechten und touristische Angebote seien hingegen als solche zu bewerten. Die daraus generierten Einnahmen waren ausschließlich zur Finanzierung der Naturerhaltung zu verwenden. Die EU-Kommission entschied, dass die den privaten Naturschutzorganisationen gewährten Beihilfen als DAWI zulässig seien.
Das EuG hatte den Beschluss der Europäischen Kommission für nichtig erklärt. Der EuGH hat das gegen diese Entscheidung gerichtete Rechtsmittel zurückgewiesen.
Der EuGH vertritt die Auffassung, dass die Zuweisung von Einnahmen aus Nebentätigkeiten für die Finanzierung einer DAWI nicht dazu führt, dass diese Nebentätigkeiten als für die DAWI erforderlich angesehen werden können. Allein Nebentätigkeiten, die für die Erbringung einer DAWI erforderlich sind, könnten als Teil der DAWI eingestuft werden.
Ausgleichzahlungen für nicht erforderliche Nebentätigkeiten stellen Überkompensationszahlungen und damit eine Beihilfe dar. Dementsprechend besteht eine Pflicht zur getrennten Buchführung:
- Kosten für und Einnahmen aus Tätigkeiten, die für die Erbringung der betreffenden DAWI erforderlich sind sowie
- Kosten für und Einnahmen aus Tätigkeiten, die nicht für die Erbringung einer DAWI erforderlich sind.
Die Entscheidung zeigt die klare Abgrenzung von Nebentätigkeiten bei einer DAWI. Insbesondere die Unterscheidung von notwendigen und nicht notwendigen Nebentätigkeiten ist vom Fördernehmer zu beachten und entsprechend eine Trennungsrechnung vorzunehmen. Andernfalls droht eine Rückforderung aufgrund beihilferechtswidriger Querfinanzierung.
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EuGH, Rs. C-516/19 – Keine KMU-Eigenschaft bei Kontrolle eines Unternehmens durch öffentliche Stellen
In der Entscheidung vom 24. September 2020 (Rs. C-516/19) entschied der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des VG Berlin. Das klagende Unternehmen ging gegen die Entscheidung des Fördergebers im Rahmen des Förderprogramms „Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand“ gegen die Versagung der beantragten Förderung vor. Der Fördergeber hatte eine Förderung des Unternehmens mit der Begründung versagt, es sei gemäß des Anhangs 1 zur Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 651/2014 („AGVO“) kein KMU. Das Unternehmen werde über ein Kuratorium einer gemeinnützigen Stiftung von staatlichen Stellen kontrolliert, da die Stiftung 88,8% der Anteile an dem Unternehmen halte. Art. 3 Abs. 4 des Anhangs 1 zur AGVO schließt die Eigenschaft als KMU aus, wenn mind. 25% der Stimmrechte oder des Kapitals von einer oder mehreren öffentlichen Stellen einzeln oder gemeinsam kontrolliert werden.
Für den EuGH ergibt sich eine Kontrolle ausschließlich aus der Höhe der Beteiligung der öffentlichen Stellen am Kapital oder den Stimmrechten. Die Regelungen in der KMU-Definition in Anhang 1 zur AGVO sollen dazu dienen, die wirtschaftliche Realität der KMU besser zu erfassen. Unternehmen sollen dann nicht im Rahmen von KMU-Programmen förderfähig sein, wenn sie über eine stärkere Wirtschaftskraft als KMU verfügen. Denn der Nutzen dieser Förderprogramme soll denjenigen Unternehmen zugutekommen, bei denen ein entsprechender Bedarf besteht.
Art. 3 des Anhangs 1 zur AGVO sieht verschiedene Fälle vor, in denen ein Unternehmen trotz Beteiligung z.B. einer Universität als eigenständig und daher als KMU anzusehen ist. Sind diese Fälle nicht einschlägig, gilt der Ausschluss von der Qualifizierung als KMU, wenn 25% oder mehr der Stimmrechte oder des Kapitals von öffentlichen Stellen einzeln oder gemeinsam kontrolliert werden. Im vorliegenden Fall entschied gemäß der Satzung das Kuratorium der Stiftung u.a. über die Finanzplanung der Stiftung sowie Bestellung bzw. Abberufung des Vorstands der Stiftung
Irrelevant bei der Bewertung ist, ob die öffentlichen Stellen in der Lage sind, die tatsächliche Ausübung der Stimmrechte ihrer entsandten Vertreter zu beeinflussen und zu koordinieren. Ebenso irrelevant ist, ob die Vertreter den Interessen ihrer jeweiligen öffentlichen Stelle tatsächlich Rechnung tragen. Schließlich lässt der Umstand, dass die Satzung der Stiftung die Ausübung der Stimmrechte über das Unternehmen, an dem die Stiftung 88,8% der Anteile hält, nicht regelt, die Kontrolle nicht entfallen.
Sowohl auf Seiten des Fördergebers wie auch des Fördernehmers sind die gesellschaftsrechtlichen Strukturen, also auch die Gesellschafter und ihre Anteilshöhe, vor Beantragung einer Beihilfe zu überprüfen, um eine ablehnende Entscheidung oder gar eine spätere Rückforderung zu vermeiden. Von praktischer Bedeutung ist vor allem die Einschätzung des EuGH, dass nicht die tatsächliche Kontrolle zu prüfen ist, sondern die abstrakte Möglichkeit der Kontrolle ausreichend ist. Eine „Exkulpation“ ist damit nicht möglich. Das Urteil dürfte damit für die zukünftige Ausgestaltung der Beteiligung öffentlicher Stellen an KMU eine wichtige Rolle spielen.
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EuGH, Rs. C-608/19 – Zeitpunkt der Gewährung einer De-minimis-Beihilfe
Am 28. Oktober 2020 hat der EuGH (Rs. C-608/19) auf eine Vorlage des Regionalen Verwaltungsgerichts für Venetien entschieden, dass ein Unternehmen bis zur Gewährung einer Beihilfe die beantragten Mittel verringern kann oder auf bereits früher erhaltene Zuschüsse verzichten kann, um den Höchstbetrag der De-minimis-Beihilfe nicht zu überschreiten. Der Zeitpunkt der Gewährung ergibt sich aus nationalem Recht und ist gegeben, sobald der Fördernehmer einen Anspruch auf die Beihilfe hat.
Der Betrag von EUR 200.000 in drei Steuerjahren ist der Höchstbetrag, den ein Unternehmen nach der De-minimis-Verordnung Nr. 1407/2013 erhalten kann. Wird dieser Betrag nicht überschritten, geht der europäische Beihilfegesetzgeber davon aus, dass unter diese Verordnung fallende Maßnahmen weder Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel haben noch den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt zu verfälschen drohen.
In dem Verfahren hatte ein Antragsteller nach Ablehnung seines Förderantrags den Förderantrag geändert sowie einen verringerten Zuschuss beantragt und auf einen bereits vorher gewährten Zuschuss verzichtet, um die Höchstgrenze der De-minimis-Beihilfe nicht zu überschreiten. Der Fördergeber lehnte die Gewährung der Förderung insgesamt ab, da die Einhaltung des De-minimis-Höchstbetrags zum Zeitpunkt der Bewilligung zu prüfen sei und Korrekturen nur bis zur Bewilligung (oder Ablehnung) möglich seien.
Der Zeitpunkt, ab wann eine Beihilfe als „gewährt“ anzusehen ist, bestimmt sich nach nationalem Recht. Der Zeitpunkt ist dabei nicht die Auszahlung der Beihilfe – die italienische Sprachfassung von Art. 6 Abs. 3 der De-minimis-Verordnung nannte als einzige Sprachfassung die Auszahlung als relevanten Zeitpunkt, was der EuGH aufgrund der anderen Sprachfassungen jedoch als Übersetzungsfehler gewertet hat.
Aus dem Erwägungsgrund 21 der De-minimis-Verordnung ergibt sich, dass die Freigabe von Beihilfen bis zum Höchstbetrag von EUR 200.000 den Verwaltungsaufwand der Mitgliedstaaten verringern soll. Bis zur Gewährung einer Beihilfe hält der EuGH den Antrag auf verringerte Mittel oder den Verzicht auf bereits erhaltene Beihilfen für unschädlich. Die Möglichkeit zur Anpassung eines Beihilfeantrags muss ein Mitgliedstaat jedoch nicht gewähren.
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EuGH, C-556/19 – Staatlichkeit der Mittel bei privatrechtlich organisiertem Umlagesystem?
Die Entscheidung des EuGH vom 21. Oktober 2020 in dem Verfahren C-556/19 behandelt die Frage der Staatlichkeit von Mitteln im Fall von Abgaben für das Recycling bestimmter Abfälle. Das französische Unternehmen Eco TLC übernimmt für bestimmte Produkte die Trennung und Verwertung der Abfälle. Unternehmen, die diese Produkte in Verkehr bringen, zahlen eine Abgabe an den Dienstleister Eco TLC, der ohne Gewinnerzielungsabsicht tätig ist. Eco TLC wiederum zahlt den Mülltrennungsunternehmen für das Recycling und die Behandlung von Abfällen von TLC-Produkten eine Unterstützungsleistung. Die Höhe dieser Unterstützung legt der Staat fest.
Diese Maßnahme geht auf eine Änderung des französischen Umweltgesetzbuches zurück. Zur Erfüllung ihrer Pflichten müssen die Hersteller von TLC-Produkten diese Abfälle entweder selbst behandeln oder eine Abgabe an eine zugelassene Umwelteinrichtung zahlen, um die Behandlung der Abfälle sicherzustellen.
Die von privaten Wirtschaftsteilnehmern (den Herstellern von TLC-Produkten) geleisteten finanziellen Beiträge werden an eine ebenfalls privatrechtliche Gesellschaft gezahlt; diese wiederum zahlt einen Teil der Beiträge an andere private Wirtschaftsteilnehmer (die Mülltrennungsunternehmen). Die Zahlungen haben allesamt privatrechtlichen Charakter und laufen nicht über den Haushalt des Staates. Der Staat verzichtet bei diesem Mechanismus nicht auf Steuern, Abgaben o.Ä. Es findet demnach keine Übertragung staatlicher Mittel statt. Weiterhin hat der Staat zu keinem Zeitpunkt Kontrolle über diese Mittel. Alle sich ergebenden Pflichten regeln die beteiligten Unternehmen untereinander auf Grundlage des Zivil- und Handelsrechts. Schließlich werden die Gelder nur zur Erfüllung der gesetzlich übertragenen Aufgaben verwendet. Zwar wird der Betrag, den die Eco TLC an die Mülltrennungsunternehmen zahlt, vom Staat festgelegt. Die Eco TLC legt jedoch die von den Herstellern zu erbringenden Beiträge (u.a. für die Dienstleistung und die an die Mülltrennungsunternehmen zu zahlenden Beiträge) selbst fest, so dass seine Ausgaben gedeckt werden.
Ein vom Staat bestellter Prüfer im Verwaltungsrat der Eco TLC hat kein Stimmrecht und kann somit keinen Einfluss auf die Verwaltung der Gelder nehmen; seine Aufgabe ist allein die Prüfung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Unternehmens.
Die Entscheidung zeigt (wie auch das Urteil zur EEG-Umlage, C-405/16 P), dass es bei der Frage der Staatlichkeit der Mittel auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ankommt. In diesen Fällen ist ausführlich mit der Gestaltung des konkreten Umlagemechanismus‘ zu argumentieren, um das Merkmal der Staatlichkeit der Mittel ausschließen zu können.