Upate Beihilferecht April 2020
Rechtsprechungsübersicht EuG/EuGH
Die europäischen Gerichte haben in den letzten Monaten wieder zahlreiche Entscheidungen zum Beihilferecht getroffen. Die folgenden Entscheidungen behandeln kartellrechtliche Schadensersatzansprüche für Fördergeber, die Auswirkungen der rechtlichen Grundlage auf ein Beihilfeverfahren sowie die Akteneinsicht nach VO (EG) Nr. 1049/2001 im Beihilfeverfahren.
EuGH, Rs. C-435/18 – Kartellschadensersatzanspruch für „jedermann“ – auch für Fördergeber
Die Entscheidung des EuGH in dem Verfahren Rs. C-435/18 vom 12. Dezember 2019 zeigt Schnittstellen von Kartell- und Beihilferecht auf. Das Verfahren beruht auf einer Vorlage des Obersten Gerichtshof aus Österreich. Es handelt sich um eine follow-on-Schadensersatzklage des Landes Oberösterreich gegen die Teilnehmer des Aufzug-Kartells. Das Land machte Schadensersatz nicht als unmittelbarer oder mittelbarer Abnehmer geltend, sondern in seiner Eigenschaft als Fördermittel vergebende Einrichtung. Oberösterreich fördert Baukosten bestimmter Wohnungsbauprojekte zu einem bestimmten Prozentsatz. Die Baukosten seien aufgrund des Kartells überhöht, was zu höheren staatlichen Darlehen als erforderlich geführt habe. Der Schaden liege in dem geringeren Zinssatz dieser Darlehen gegenüber einer Investition der Gelder in Bundesanleihen.
Der EuGH vertritt die Auffassung, dass ein Zusammenhang zwischen Kartellverstoß und Schaden ausreichend ist, um einen Anspruch zu bejahen; ein Zusammenhang zwischen Schaden und Schutzzweck des Art. 101 AEUV (Kartellverbot) ist hingegen nicht erforderlich. Denn der mit Art. 101 AEUV verfolgte Schutz des Wettbewerbs setzt nicht voraus, dass der Geschädigte einen Schaden nur durch Marktteilnahme erleiden kann. Daher muss der Schadensersatzkläger nicht als Anbieter oder Nachfrager auf dem kartellbefangenen Markt tätig sein. Ob dem Land Oberösterreich tatsächlich ein Schaden entstanden ist und ob der erforderliche Nachweis eines Kausalzusammenhangs zwischen Kartell und Schaden gegeben ist, muss nun der Oberste Gerichtshof prüfen.
Mit der Entscheidung führt der EuGH seine „jedermann“-Rechtsprechung fort und weitet den Anspruch auf Schadensersatz aufgrund von Kartellen auch auf Fördergeber aus, die weder direkt noch indirekt Abnehmer des Kartells waren. Der EuGH hat damit den Kreis anspruchsberechtigter Geschädigter deutlich ausgeweitet.
Es bleibt abzuwarten, ob dem Land Oberösterreich nach diesem Etappensieg tatsächlich ein Schadensersatzanspruch zugesprochen wird. Während in Deutschland in vielen Fällen bei follow-on-Klagen von Abnehmern erstinstanzlich Schadensersatz dem Grunde nach zugesprochen worden ist, sind viele Fragen der Schadenshöhe noch ungeklärt. Aufgrund des finanziellen Aufwands einer follow-on-Klage muss der von dem Fördergeber erlittene Schaden schon beträchtlich sein, um Aufwand und Risiko einer follow-on-Klage zu rechtfertigen.
EuGH, Rs. C-56/18 – Änderung der rechtlichen Grundlagen führt nicht ohne weiteres zur Nichtigkeit eines Beschluss
Mit seiner Entscheidung vom 11. März 2020 (Rs. C-56/18) hob der EuGH eine Entscheidung des EuG (Rs. T-263/15) im Hinblick auf staatliche Beihilfen für den Flughafen Gdynia-Kosakowo auf. Die EU-Kommission hatte sich im Eröffnungsbeschluss des Verfahrens im Jahre 2012 sowie in einem zwischenzeitlich aufgehobenen und ersetzten Beschluss im Jahr 2014 auf die damaligen Leitlinien für Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007-2013 (2006/C 54/08) und auf Art. 107 Abs. 3 lit. a) AEUV berufen. In dem verfahrensabschließenden Beschluss im Jahr 2015 bezog sich die EU-Kommission auf die Leitlinien für Beihilfen für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften (2104/C 99/03) sowie auf Art. 107 Abs. 3 lit. c) AEUV. Das betroffene Unternehmen wurde als Beteiligte – nur EU-Kommission und Mitgliedstaat sind Parteien des Rechtstreits – in dem Verfahren nicht zur Stellungnahme zur geänderten Rechtsgrundlage aufgefordert.
Der EuGH sieht in der unterbliebenen Aufforderung zur Stellungnahme, die sich aus Art. 108 Abs. 2 AEUV ergibt, einen Verfahrensfehler. Allerdings führt ein solcher Verfahrensfehler nur dann zur vollständigen oder teilweisen Aufhebung der Entscheidung, wenn die angefochtene Entscheidung ohne den Verstoß einen anderen Inhalt gehabt haben könnte. Die Existenz von Unterschieden zwischen der rechtlichen Regelung, zu welcher die Beteiligten angehört wurden, und derjenigen, auf welcher der Beschluss letztlich basiert, führt grundsätzlich nicht zur Nichtigerklärung des Beschlusses. Die Änderung muss – entgegen der Ansicht des EuG – hinsichtlich der jeweils streitgegenständlichen Bestimmungen vielmehr geeignet gewesen sein, den Inhalt des angefochtenen Beschlusses zu verändern (Rn. 82). Gelangt man auch unter Zugrundelegung der neuen Regelung zum selben Ergebnis des zuvor aufgehobenen Beschlusses – hier die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem europäischen Beihilferecht – führt eine unterlassene Anhörung nicht zur Aufhebung des Beschlusses. Dies gilt ebenso, wenn der Beschluss auf einer autonomen Rechtsgrundlage beruht, die unverändert ist und die für sich allein den angefochtenen Beschluss trägt.
Der EuGH stellt mit dieser Entscheidung klar, dass eine unterlassene Anhörung des betroffenen Unternehmens nicht automatisch die (vollständige oder zumindest teilweise) Aufhebung eines Beschlusses der EU-Kommission nach sich zieht. Dieser Rechtsprechung liegt die Besonderheit des EU-Beihilferechts zugrunde, dass Partei des Verfahrens der Mitgliedstaat als fördergebende Stelle und nicht das betroffene Unternehmen ist. Das betroffene Unternehmen kann somit in seiner effizienten Verteidigung eingeschränkt sein, da ihm nur Beteiligtenrechte zustehen und der Mitgliedstaat ggf. auch andere Interessen als das betroffene Unternehmen verfolgt.
EuG, Rs. T-168/17 – Akteneinsicht nach VO 1049/2001 in Beihilfeverfahren
In der Entscheidung vom 30. Januar 2020 (Rs. T-168/17) hat das EuG entschieden, dass Dokumente eines beihilferechtlichen Verfahrens Vertraulichkeit genießen und ohne überwiegendes öffentliches Interesse nicht im Rahmen eines Einsichtsbegehrens zugänglich gemacht werden müssen.
Die Klagepartei hat ein Beihilfeverfahren gegen eine Mitbewerberin angestrengt und – als die EU-Kommission die Absicht äußerte, das Verfahren einzustellen – Akteneinsicht nach der VO Nr. 1049/2001 angestrengt, die die EU-Kommission ablehnte. Das EuG bestätigte eine Vermutung der Vertraulichkeit von Dokumenten in Beihilfeverfahren. Diese Vermutung gelte zumindest bis zum förmlichen Abschluss des Verfahrens (sowie auch danach, wenn eine Klage gegen die Sachentscheidung anhängig ist). Dem gegenüber reiche die Absicht einer Schadensersatzklage – basierend auf einem Wettbewerbsverstoß – nicht aus, ein überwiegendes öffentliches Interesse zu bejahen. Der Antragsteller müsse die Notwendigkeit der Akteneinsicht konkret darlegen, damit diese gegen die Vertraulichkeit der Akteneinsicht abgewogen werden könne. Auch Art. 42 der GrCH gewähre keine uneingeschränkte Akteneinsicht.
Die Vorschriften der VO 1049/2001 kommen im europäischen Wettbewerbsrecht in vielen Gestaltungen zum Tragen. Für potentielle Kläger ist die Akteneinsicht ein wichtiges Instrument, um die Durchsetzbarkeit eigener Schadensersatzansprüche besser abschätzen zu können. Die EU-Kommission handhabt Akteneinsichtsbegehren immer noch sehr restriktiv und erschwert es Geschädigten, ihre möglichen Ansprüche besser bewerten zu können.