Update Arbeitsrecht Mai 2023
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Arbeitsunfähigkeit während einer Altersteilzeitregelung
EuGH, Urteil vom 27.04.2023 – C-192/22
Um den Generationswechsel in einem Unternehmen zu ermöglichen, werden vermehrt Altersteilzeitverträge mit Arbeitnehmern abgeschlossen. Die Altersteilzeitverträge ermöglichen älteren Arbeitnehmern durch Reduzierung der Arbeitszeit einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Arbeitgebern wird dadurch die Möglichkeit gegeben, die Personalstruktur zu verjüngen oder einen sozialverträglichen Personalabbau zu betreiben.
In einem Vorabentscheidungsersuchen musste sich der Europäische Gerichtshof kürzlich mit der Frage auseinandersetzen, ob der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, der im Verlauf des Urlaubsjahres aus der Arbeits- in die Freistellungsphase eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses eintritt, mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt. Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer den gesamten Jahresurlaub antragsgemäß für einen Zeitraum unmittelbar vor Beginn der Freistellungsphase bewilligt, die Erfüllung des Urlaubsanspruchs konnte aber nicht eintreten, weil der Arbeitnehmer nach der Urlaubsbewilligung arbeitsunfähig erkrankte.
Sachverhalt
Der Kläger war bis zum 30.09.2019 beim Arbeitgeber beschäftigt. Der Arbeitnehmer ging sodann ab 01.10.2019 in Rente. Die Parteien kamen Ende 2012 im Rahmen einer Altersteilzeitregelung überein, das Arbeitsverhältnis in ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis zu ändern. Dabei war vorgesehen, dass der Kläger vom 01.02.2013 bis zum 31.05.2016 arbeiten und vom 01.06.2016 bis zum 30.09.2019 freigestellt werden sollte.
Der Kläger nahm vom 04. bis zum 25.05.2016 Urlaub, um seinen Resturlaub für das Jahr 2016 vollständig zu nehmen. Auf Grund einer Erkrankung während dieses Zeitraums konnte er jedoch einen Teil seiner Urlaubstage nicht nehmen. Der Arbeitgeber wollte die noch offenen Urlaubstage nicht abgelten.
Der Kläger erhob beim Arbeitsgericht Regensburg Klage gegen den Arbeitgeber auf Abgeltung nicht genommener Urlaubstage und machte insoweit geltend, dass er diese Urlaubstage krankheitsbedingt nicht in Anspruch nehmen konnte.
Das Arbeitsgericht Regensburg wies die Klage mit der Begründung ab, dass der Urlaubsanspruch für das Jahr 2016 gemäß § 7 Abs. 3 S. 3 BurlG mit Ablauf des 31.03.2017 verfallen sei. Der Umstand, dass der Arbeitgeber nicht auf die Notwendigkeit hingewiesen hatte, seinen Urlaub vollständig zu nehmen, sei unerheblich, da dies auf Grund der Freistellung des Arbeitnehmers ab dem 01.06.2016 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 30.09.2019 unmöglich gewesen sei.
Der Kläger legte gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Regensburg erfolglos Berufung beim Landesarbeitsgericht München ein. Gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München legte der Kläger Revision beim Bundesarbeitsgericht ein.
Das Bundesarbeitsgericht hat Zweifel in Bezug auf die Anwendung des § 7 Abs. 3 BurlG, der das Erlöschen der Ansprüche auf nicht genommenen Urlaub nach Ablauf einer bestimmten Frist vorsieht, wenn es dem Arbeitnehmer aufgrund einer Freistellung unmöglich geworden ist, seine Urlaubstage vollständig zu nehmen. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesarbeitsgericht den Rechtsstreit ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof die Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt. Es sollte geklärt werden, ob das geltende EU-Recht der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegensteht, wonach der in der Arbeitsphase eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses erworbene, bisher nicht erfüllte Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub in der Freistellungsphase mit Ablauf des Urlaubsjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt erlischt.
Entscheidung
Der EuGH hat mit Urteil vom 27.04.2023 diese Frage bejaht. Die Abwesenheit eines Arbeitnehmers, z.B. aus gesundheitlichen Gründen, sei für den Arbeitgeber zwar nicht vorhersehbar, doch sei der Umstand, dass eine solche Abwesenheit den Arbeitnehmer gegebenenfalls daran hindern kann, seinen Anspruch auf Jahresurlaub auszuschöpfen, wenn es sich um ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis handelt, normalerweise nicht unvorhersehbar. Der Arbeitgeber sei nämlich in der Lage, ein solches Risiko auszuschließen oder zu verringern, indem er mit dem Arbeitnehmer vereinbart, dass dieser seinen Urlaub rechtzeitig nimmt.
Des Weiteren stelle der Anspruch auf Jahresurlaub nur einen der beiden Aspekte des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub als tragender Grundsatz des Sozialrechts der Union dar, während der andere Aspekt die finanzielle Vergütung sei, die dem Arbeitnehmer zusteht, wenn er auf Grund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in der Lage ist, seinen Urlaub zu nehmen. Einem Arbeitnehmer, der auf Grund eines unvorhergesehenen Umstands wie durch Krankheit daran gehindert wird, vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, jeglichen Anspruch auf eine solche finanzielle Vergütung zu versagen, liefe jedoch darauf hinaus, dem im EU-Recht vorgesehenen Recht seinen Gehalt zu nehmen.
Praxistipp
Um am Ende der Freistellungsphase eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses böse Überraschungen für den Arbeitgeber in Bezug auf eine Urlaubsabgeltung zu vermeiden, sollte die Inanspruchnahme offener Urlaubsansprüche während der Arbeitsphase rechtzeitig angegangen werden. Aus Arbeitgebersicht sollte möglichst frühzeitig darauf geachtet werden, dass während der Arbeitsphase keine vermehrten Urlaubsansprüche angehäuft werden, da diese ansonsten vor dem Übergang in die Freistellungsphase nicht mehr vom Arbeitnehmer genommen werden können, sollte dieser arbeitsunfähig erkranken. Die Konsequenz daraus ist, dass dann eine entsprechende Urlaubsabgeltung durch den Arbeitgeber zu zahlen ist.
Arbeitgeber sind bei Altersteilzeitverträgen dazu angehalten, die noch offenen Urlaubsansprüche während der Arbeitsphase zu prüfen und den Arbeitnehmern rechtzeitig vor der Freistellungsphase den noch offenen Urlaub zu gewähren. Sollte die Urlaubsgewährung erst am Ende der Arbeitsphase erfolgen und der Arbeitnehmer erkranken, wodurch der Urlaub nicht mehr vollständig vom Arbeitnehmer in Anspruch genommen werden kann, besteht das Risiko einer entsprechenden Urlaubsabgeltung.