13.11.2018Fachbeitrag

Update IP Nr. 11

Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Erfordernis der Aussprache einer Abmahnung bzw. einer Anhörung des Antragsgegners vor Erlass einer einstweiligen Verfügung

Mit gleich zwei Beschlüssen hat das Bundesverfassungsgericht am 30.09.2018 (Az. 1 BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17) die Rechte von Antragsgegnern im Rahmen einstweiliger Rechtsschutzverfahren gestärkt. Es entschied, dass selbst in Eilverfahren regelmäßig kein Grund bestehe, der Gegenseite vor Erlass einer einstweiligen Verfügung eine Gelegenheit zur Stellungnahme, sei es in Form einer dem Verfahren vorausgehenden Abmahnung oder einer Anhörung, zu verwehren. Dabei stützten sich die Richter auf das grundrechtsgleiche Recht der prozessualen Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz.

Hintergrund der Entscheidungen

Die Beschlüsse ergingen aufgrund zweier Verfassungsbeschwerden, die im Zusammenhang mit der Berichterstattung von journalistischen Medien standen. Sowohl das Recherchenetzwerk Corrective als auch der Spiegel-Verlag wendeten sich gegen stattgebende einstweilige Verfügungen, die gegen sie ergangen waren.

Zur Verfassungsbeschwerde des Recherchenetzwerks Corrective 

Der Verfassungsbeschwerde des journalistisch-redaktionellen Recherchenetzwerks Corrective (Az. 1 BvR 1783/17) lag ein Verfahren zugrunde, das vor dem Landgericht Köln stattgefunden hatte. Auf der von ihr betriebenen Internetseite hatte die Beschwerdeführerin einen Artikel veröffentlicht, der über den Verlauf einer Aufsichtsratssitzung eines Unternehmens berichtete, deren Gegenstand Korruptionsvorwürfe gegen das Unternehmen im Zusammenhang mit dem Verkauf von U-Booten in das Europäische Ausland waren. Das Unternehmen beantragte beim Landgericht Köln den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Beschwerdeführerin durch die ihr aufgegeben werden sollte, die Veröffentlichung zu unterlassen. Zur Aussprache einer vorherigen Abmahnung kam es nicht. Das Landgericht Köln erließ die einstweilige Verfügung ohne die Beschwerdeführerin zuvor anzuhören. Die Beschwerdeführerin erfuhr daher erst nach der Zustellung der einstweiligen Verfügung von dem Inhalt des Verfügungsantrags. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendete sich die Beschwerdeführerin gegen diese einstweilige Verfügung, durch die sie sich ihren Rechten auf rechtliches Gehör, prozessuale Waffengleichheit und ein faireres Verfahren sowie in ihrer Meinungs- und Pressefreiheit verletzt sah. Die Beschwerdeführerin trug vor, dass die jahrelange Praxis der für Pressesachen zuständigen Zivilkammer des Landgerichts Köln zu einer bewussten Umgehung von Verfahrensrechten führe. Insbesondere rügte sie, dass das Gericht die einstweilige Verfügung ohne mündliche Verhandlung erlassen hatte und ohne das dem Verfahren eine Abmahnung vorausgegangen war. 

Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass der Beschluss des Landgerichts Köln die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessualen Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz verletze.

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit sichere verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter. Dieser habe den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbstständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit stehe dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz. Als prozessuales „Ur-Recht“ gebiete die prozessuale Waffengleichheit der Gegenseite in einem gerichtlichen Verfahren vor der Entscheidung Gehör und damit die Gewährung einer Gelegenheit, auf die bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss nehmen zu können. Entbehrlich sei eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen, wenn sie etwa zu einer Vereitelung des Zwecks des Verfahrens führen würde. 

Durch den Erlass der einstweiligen Verfügung nicht nur ohne vorherige Anhörung der Beschwerdeführerin, sondern auch ohne eine hinreichende vorprozessuale Abmahnung sei die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Beschwerdeführerin gegenüber dem Prozessgegner nicht mehr gewährleistet. Auch wenn eine Eilbedürftigkeit anzuerkennen sei, folge hieraus kein schutzwürdiges Interesse daran, dass die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs als solche dem Schuldner verborgen bliebe. Ein einseitiges „Geheimverfahren“ über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gerichte und Antragsteller über Rechtsfragen austauschten, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, sei mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar. Jedenfalls in den Fällen, in denen es um eine bereits veröffentlichte Äußerung gehe, bestehe in der Regel kein Grund von einer Anhörung oder Äußerungsmöglichkeit eines Antragsgegners vor dem Erlass einer einstweiligen Verfügung abzusehen.

Zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit könne das Gericht auch Möglichkeiten einbeziehen, die es der Gegenseite bereits vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern. Insoweit könne auch auf eine Erwiderungsmöglichkeit auf eine Abmahnung abgestellt werden. Dies genüge allerdings nur dann, wenn der Verfügungsantrag in Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht wird. Weiterhin sei erforderlich, dass die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung mit dem bei dem Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sind. Außerdem müsse der Antragssteller ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen.

Darüber hinaus sei es verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer einstweiligen Verfügung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Gehör sei deshalb auch dann zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragssteller richterliche Hinweise erteile, von der die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfahren hätte. Rechtliche Hinweise müssten daher auch dem Antragsgegner entsprechend zeitnah mitgeteilt werden.

Bestätigung der Entscheidungen

Bestätigt wird die obige Entscheidung durch den am selben Tag ergangenen Beschluss mit dem Az. 1 BvR 2421/17. Auch in dieser Entscheidung gelangte das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass sowohl der Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung als auch die einseitige Hinweiserteilung allein an den Anspruchsteller gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen eine Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien im Zivilprozess verstoßen.

Auswirkungen der Entscheidungen

Die Stärkung der Rechte von Antragsgegnern im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts wird vermutlich künftig dazu führen, dass Gerichte nur noch in Ausnahmefällen von dem Erfordernis der Aussprache einer dem Verfahren vorausgegangenen Abmahnung durch den Antragsteller absehen bzw. auf eine Anhörung des Antragsgegners im Rahmen einer mündlichen Verhandlung verzichten werden. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie die Instanzengerichte ihre Spruchpraxis anpassen.

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