Update Arbeitsrecht Juli 2022
Entschädigung nach dem AGG bei Kündigung eines Schwerbehinderten ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes
BAG 02.06.2022 – 8 AZR 191/21
Arbeitgeber müssen vor Ausspruch einer Kündigung eines schwerbehinderten Menschen gemäß § 168 SGB IX die Zustimmung des Integrationsamts einholen. Geschieht dies nicht, ist die Kündigung von vornherein unwirksam. Die fehlende Anhörung des Integrationsamts kann jedoch über die Unwirksamkeit der Kündigung hinaus weitere Konsequenzen für einen Arbeitgeber haben. Der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zu Gunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, kann die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung im Sinne von § 22 AGG begründen, dass eine Benachteiligung, die der schwerbehinderte Mensch erfahren hat, wegen der Schwerbehinderung erfolgte. Zu diesen Vorschriften, die dem Schutz schwerbehinderter Menschen dienen, gehört auch § 168 SGB IX.
SACHVERHALT
Der klagende Arbeitnehmer war als Hausmeister beim beklagten Arbeitgeber beschäftigt. Der Kläger machte gegenüber dem Beklagten eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend, weil der Beklagte ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt haben soll. Der Beklagte hatte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger gekündigt, ohne zuvor die Zustimmung des Integrationsamts nach § 168 SGB IX einzuholen. Der Kläger meint, der Beklagte habe dadurch gegen Vorschriften verstoßen, die Verfahrens- bzw. Förderpflichten zu Gunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung durch den Arbeitgeber lag allerdings kein Nachweis über eine Schwerbehinderung des Klägers durch eine behördliche Feststellung vor. Der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch keinen Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch gestellt. Der Kläger hat behauptet, am 11.02.2018 einen Schlaganfall erlitten zu haben, wodurch er rechtsseitig gelähmt gewesen sei. Dies soll seine Betreuerin dem Beklagten am nächsten Tag mitgeteilt haben.
Der Kläger blieb mit seiner Klage sowohl in der ersten als auch in der zweiten Instanz erfolglos. Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision des Klägers zurück.
ENTSCHEIDUNG
Das Bundesarbeitsgericht hat festgestellt, dass der Kläger gegen den Arbeitgeber keinen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat. Der Kläger konnte nicht darlegen, dass eine Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung erfolgt ist. Das Bundesarbeitsgericht weist zwar darauf hin, dass ein Verstoß gegen § 168 SGB IX im Einzelfall die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung im Sinne von § 22 AGG begründen kann, dass die Schwerbehinderung ursächlich für die Benachteiligung war. Im vorliegenden Rechtsstreit konnte der Kläger einen solchen Verstoß des Arbeitgebers allerdings nicht schlüssig darlegen. Denn selbst wenn der Vortrag des Klägers, am 11.02.2018 einen Schlaganfall erlitten zu haben, der zu einer halbseitigen Lähmung geführt hätte, als zutreffend unterstellt worden wäre, stellt dies keine Umstände dar, nach denen im Zeitpunkt der Kündigung von einer offenkundigen Schwerbehinderung auszugehen war. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Beklagte einen Auftrag mit einem Vertragspartner verloren hatte, sodass dies einen hinreichenden Grund für den Arbeitgeber dargestellt hatte, sich für eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger zu entscheiden. Aus den Gesamtumständen kann deshalb nicht gefolgert werden, dass eine Benachteiligung des Klägers vorlag.
PRAXISHINWEISE
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts macht für Arbeitgeber noch einmal deutlich, dass vor Ausspruch einer Kündigung geprüft werden sollte, ob gegebenenfalls eine Schwerbehinderung bei dem zu kündigenden Mitarbeiter vorliegt. Sollte dies der Fall sein, ist eine Zustimmung gemäß § 168 SGB IX beim Integrationsamt einzuholen. Lässt ein Arbeitgeber das Integrationsamtsverfahren bewusst außen vor, obwohl er Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers hat, kann dies einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösen, weil eine Vermutung nach § 22 AGG begründet wird, dass die Schwerbehinderung ursächlich für die Benachteiligung gewesen ist.
Hierbei sind insbesondere auch die Fälle zu berücksichtigen, in denen der Arbeitnehmer bislang zwar keinen Nachweis für das Vorliegen einer Schwerbehinderung dargelegt hat, jedoch aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen für einen Arbeitgeber offensichtlich sein musste, dass eine Schwerbehinderung vorliegt. In diesen Fällen kann es gegebenenfalls angezeigt sein, vorsorglich das Integrationsamtsverfahren nach § 168 SGB IX einzuleiten, ehe es zum Ausspruch der Kündigung kommt.