26.02.2021FachbeitragCorona

Update Arbeitsrecht Februar 2021

Kündigung wegen einer Anzeige bei der Behörde über die Verletzung von Quarantänebestimmungen

ArbG Dessau-Roßlau 12. August 2020 - 1 Ca 65/20

Bereits im Frühjahr 2020 machte die außerordentliche Kündigung einer „Corona-Whistleblowerin“ in den Nachrichten Schlagzeilen, weil sie zuvor ein Video online geteilt hatte, das geringe Abstände von Tönnies-Angestellten beim Essen in der Betriebskantine des Fleischwerks Rheda zeigte. Die Mitarbeiterin war bei einer Catering-Firma angestellt, welche die Tönnies-Kantine mit Essen belieferte. Die Mitarbeiterin hatte die ausgesprochene Kündigung gerichtlich angegriffen und schließlich eine einvernehmliche Einigung erzielt.

Nunmehr hatte das Arbeitsgericht Dessau-Roßlau über einen weiteren „Corona-Whistleblower-Fall“ zu entscheiden. 

Sachverhalt

Aufgrund einer vom Landkreis erlassenen Allgemeinverfügung zum Schutz beziehungsweise zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 nach dem Infektionsschutzgesetz, war die Bevölkerung bestimmter Ortsteile dieses Landkreises verpflichtet, sich ausschließlich in der Wohnung oder auf dem eigenen Wohngrundstück aufzuhalten. Hiervon waren nur Berufstätige innerhalb dieser Ortsteile an ihrem Arbeitsplatz und auf dem Weg zur Arbeit ausgenommen. Es war – mit Ausnahme besonders genannter Personen – untersagt, die Ortsteile zu verlassen. Das Betriebsgelände der Arbeitgeberin befand sich außerhalb dieser Quarantänezone. Sowohl der Geschäftsführer als auch der Meister des Betriebs wohnten innerhalb der Quarantänezone. Beide verließen die Quarantänezone und erschienen im Betrieb.

Nachdem der später klagende Arbeitnehmer den Meister im Betrieb entdeckte, rief er bei der örtlichen Polizeidienststelle an, um sich zu erkundigen, ob das Verlassen der Quarantänezone gestattet sei. Als der Meister Teile des Telefonats mitbekam, kam es zu einem heftigen Streitgespräch, welches sich später mit dem Geschäftsführer fortsetzte. Der Geschäftsführer ließ sich am nächsten Tag auf Corona testen, wobei der Test negativ ausfiel. Als der Arbeitnehmer den Geschäftsführer drei Tage später erneut im Betrieb antraf, verließ er umgehend das Betriebsgelände. Er wandte sich am selben Tag per E-Mail an den Landkreis, beschrieb die aus seiner Sicht erfolgte Verletzung der Quarantänebestimmungen und bat um Einschätzung und ggfs. um Einleitung rechtlicher Schritte. Der Landkreis leitete die E-Mail an die Polizei weiter, die ein Ermittlungsverfahren gegen den Geschäftsführer und den Meister einleitete. Nachdem der Geschäftsführer von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens erfuhr, warf er dem Arbeitnehmer vor, die Polizei informiert zu haben, ohne sich vorher an ihn gewandt zu haben und kündigte dem Arbeitnehmer fristlos, hilfsweise fristgerecht.

Entscheidung des Arbeitsgericht Dessau-Roßlau

Das Arbeitsgericht Dessau hat sowohl die außerordentliche als auch die ordentliche Kündigung für unwirksam erachtet. 

  1. Grundsätzliches: Jeder Mitarbeiter, der Missstände oder sogar Straftaten bei seinem Arbeitgeber feststellt oder vermutet, gerät in ein Spannungsfeld: Einerseits ist es gesellschaftlich erwünscht, auf Missstände hinzuweisen. Andererseits ist ein Arbeitnehmer aber auch zur Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber verpflichtet. Dem stünde es entgegen, wenn der Arbeitnehmer jeden angeblichen Missstand in die Öffentlichkeit trägt und der Ruf des Unternehmens auf diese Weise Schaden nimmt. Die wirtschaftlichen Folgen derartiger Indiskretionen können naturgemäß immens sein.

    Um diesem Spannungsfeld und den Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in solchen Situationen gerecht zu werden, hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze festgestellt: Erstattet der Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitgeber eine Strafanzeige, kann dies einen wichtigen Grund für eine Kündigung darstellen. Entscheidend ist, aus welcher Motivation die Anzeige erfolgte und ob die Anzeige letztlich als eine unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers auf das Verhalten des Arbeitgebers angesehen werden kann.

    Das Arbeitsgericht Dessau-Roßlau zeigte in seinem Urteil nochmals auf, bei welchen Fallgruppen eine vom Arbeitnehmer erstattete Strafanzeige gegen den Arbeitgeber nach der Rechtsprechung eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sein kann, nämlich wenn der Arbeitnehmer:

    • bei der Erstattung einer Strafanzeige wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben macht,
    • die Anzeige ausschließlich erstattet, um den Arbeitgeber zu schädigen oder aus Rache handelt, oder
    • eine mögliche innerbetriebliche Bereinigung des Missstandes unversucht lässt.

    Das BAG hat in den sogenannten „Whistleblower“-Fällen entschieden, dass kein genereller Vorrang der innerbetrieblichen Aufklärung besteht. Es muss stets abgewogen werden, ob die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers zurücktreten muss oder nicht. Eine innerbetriebliche Anzeige ist dem Arbeitnehmer etwa dann unzumutbar, wenn es sich um schwerwiegende Straftaten oder vom Arbeitgeber selbst begangenen Straftaten handelt oder wenn sich der Arbeitnehmer ansonsten selbst der Strafverfolgung aussetzen würde (§ 138 StGB). Gleiches gilt, wenn die Erfolgsaussichten eines innerbetrieblichen Klärungsversuchs als gering einzustufen sind. Dagegen obliegt grundsätzlich dem Arbeitnehmer die vorherige Information seines Arbeitgebers, wenn es sich um Straftaten eines Mitarbeiters handelt, insbesondere bei Schädigungen gegen den Arbeitgeber selbst.
     
  2. Vorliegender Fall: Im vorliegenden Fall lag nach Auffassung des Arbeitsgerichts keine der oben genannten Fallgruppen vor.

    Der Arbeitnehmer habe in seiner E-Mail an den Landkreis zutreffend mitgeteilt, dass der Geschäftsführer und der Meister den außerhalb des Quarantänegebietes liegenden Betrieb aufgesucht haben, obwohl sie im Quarantänegebiet wohnhaft waren. Er habe also keine wissentlich oder leichtfertig falschen Angaben gemacht.

    Es lagen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Arbeitnehmer den Arbeitgeber schädigen wollte oder aus „Rache“ handelte. Sein Ziel war es vielmehr, aus Gründen des Infektionsschutzes, die sich aus der Allgemeinverfügung des Landkreises ergebenden Quarantänebestimmungen durchzusetzen. Er konnte und musste aufgrund der in der Presse veröffentlichten Quarantänebestimmungen davon ausgehen, dass es dem Geschäftsführer nach der Allgemeinverfügung des Landkreises nicht gestattet war, seinen Wohnort zu verlassen. Er befürchtete zu Recht, dass ein Zuwiderhandeln für ihn sowie die anderen Arbeitnehmer des Betriebes mit einem erheblichen Infektionsrisiko verbunden sein könnte.

    Der Arbeitnehmer war auch nicht verpflichtet, zunächst auf den Geschäftsführer einzuwirken, denn es handelte sich – nach Auffassung des Arbeitsgerichts – gerade nicht um einen innerbetrieblichen Missstand, sondern um eine Verletzung einer behördlichen Allgemeinverfügung. Erschwerend kam noch hinzu, dass der Geschäftsführer im Verfahren selbst einräumte, dass er sich über den Regelungsinhalt der Allgemeinverfügung des Landkreises und ihre rechtlichen Auswirkungen in völliger Unkenntnis befunden habe, sodass er nicht in der Lage gewesen wäre, die aus Sicht des Arbeitnehmers offenen Fragen zum Umfang der Quarantänebestimmungen zu beantworten. Selbst wenn ein innerbetrieblicher Missstand vorgelegen hätte, wäre ein innerbetrieblicher Klärungsversuch wegen geringen Erfolgschancen unzumutbar gewesen. Der negative Corona-Test des Geschäftsführers spielte für das Arbeitsgericht ebenfalls keine Rolle, weil ein einmaliger Test kein abschließendes Ergebnis biete und er sich sofort danach hätte infiziert haben können.

Praxishinweis

Nach Ansicht des Arbeitsgericht Dessau-Roßlau liegt bei der Verletzung von öffentlich-rechtlichen Regelungen in Gestalt der Allgemeinverfügung kein innerbetrieblicher Missstand vor. Die Quarantäneverordnung der Bewohner der konkreten Ortsteile hatte keinen betrieblichen Bezug. 

Relevant könnte diese Entscheidung insbesondere dann sein, wenn sich Arbeitgeber nicht an die neue Corona-ArbSchV halten und der Arbeitnehmer – ohne den Arbeitgeber zuvor anzusprechen und versuchen Abhilfe zu schaffen – sich wegen eines Verstoßes gegen die Corona-ArbSchV an die entsprechenden Behörden wendet. Ob die oben genannten Grundsätze auch dann gelten, wenn die öffentlich-rechtliche Regelung – so wie die Corona-ArbSchV – insbesondere betriebliche Maßnahmen als Regelungsmaßstab hat, bleibt abzuwarten.

Bis Ende des Jahres muss Deutschland die Whistleblowing-RL in nationales Recht umsetzen. Der Referentenentwurf eines Umsetzungsgesetzes ist nun einsehbar. Mit Inkrafttreten eines Hinweisgeberschutzgesetzes, mit dem „Whistleblower“ vor Sanktionen wie Kündigungen, Versetzungen etc. geschützt werden sollen, ist mit einer Bewegung in der Rechtsprechung zu rechnen. 

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