Update Kartellrecht 31. Mai 2022
Neue Vertikal-GVO und -Leitlinien: Was bleibt, was ändert sich?
Am 1. Juni 2022 tritt die VO (EU) 2022/720, die „neue Vertikal-GVO“, in Kraft. Ihrer Verabschiedung ging eine lange und intensive Konsultation der Europäischen Kommission mit Unternehmen, Verbänden und sonstigen „Stakeholders“ voraus. Die jeweils geltende Vertikal-GVO ist das „Grundgesetz“ der Zusammenarbeit von Herstellern und Händlern sowie von sonstigen Anbietern und Abnehmern. Fest steht: Die neue Verordnung und die zeitgleich veröffentlichten neuen Vertikalleitlinien werden die Vertriebslandschaft bis in die 2030er Jahre hinein prägen.
Grundprinzip bleibt!
Nach wie vor sind „vertikale Vereinbarungen“ vom Anwendungsbereich des Kartellverbots ausgenommen („gruppenfreigestellt“), sofern
Doppelte Marktanteilsgrenze von 30 Prozent
- weder der Marktanteil des Anbieters auf seinem Verkaufsmarkt noch der Marktanteil des Abnehmers auf seinem Nachfragemarkt die Schwelle von 30 Prozent überschreitet,
Kernbeschränkungen
- keine „Kernbeschränkungen“ nach Art. 4 Vertikal-GVO (insbesondere: Beschränkungen in Bezug auf Preise, Gebiete oder Kunden im Weiterverkauf der Waren oder Dienstleistungen) vereinbart werden und
„Graue“ Klauseln
- keine „grauen“ Klauseln nach Art. 5 Vertikal-GVO enthalten sind, deren Aufnahme in den Vertrag zwar nicht die Gruppenfreistellung insgesamt entfallen lässt, die aber für sich genommen nicht von der Gruppenfreistellung profitieren können (wie etwa überlange Wettbewerbsverbote).
Dualer Vertrieb (Art. 2 Abs. 4)
Wie bisher sollen allerdings Unternehmen, die im aktuellen oder potenziellen Wettbewerb zueinander stehen, grundsätzlich nicht von der Gruppenfreistellung profitieren. Im „dualen Vertrieb“, bei dem die Vertragspartner zwar auf der nachgelagerten Marktstufe (etwa dem Vertrieb der Vertragsprodukte an Endverbraucher) in Wettbewerb stehen, nicht aber auf der vorgelagerten Marktstufe (etwa der Herstellung der Vertragsprodukte), macht die neue Vertikal-GVO – wie bereits schon die Vorgänger-GVO – allerdings eine Ausnahme. Anders als bisher sind künftig aber auch Konstellationen gruppenfreigestellt, in denen keine „Hersteller“ beteiligt sind, wohl aber Unternehmen der verschiedenen Handelsstufen (Importeure, Groß- und Einzelhändler). Andererseits schließt die Kommission die Gruppenfreistellung aus, wenn ein Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten mit den Nutzern seines Dienstes im Wettbewerb um den Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen steht, also beispielsweise wenn der Betreiber einer Online-Plattform für Schuhe auch selbst Schuhe anbietet (Artikel 2 Abs. 6).
Informationsaustausch im dualen Vertrieb (Art. 2 Abs. 5)
Für den Informationsaustausch zwischen den Parteien einer dualen Vertriebsvereinbarung ließ sich die Kommission am Ende aber nur auf eine eng umgrenzte Freistellung ein. Diese greift nur, wenn der Informationsaustausch direkt die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft und zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich ist. Ob diese komplexen Freistellungsvoraussetzungen durch die Präzisierungen in Rn. 99 der neuen Vertikalleitlinien etwas leichter anwendbar werden, wird die Praxis zeigen.
Reform des Exklusivvertriebs (Art. 4 lit. b) i))
Im Hinblick auf die Strukturierung von Vertriebssystemen bleibt es bei der grundsätzlichen Unterscheidung sog. exklusiver und selektiver Vertriebssysteme, die innerhalb ein- und desselben Gebiets – wie bisher – nicht miteinander kombiniert werden können. Im Exklusivvertrieb (auch: „Alleinvertrieb“) ist es künftig aber nicht mehr notwendig, den aktiven Verkauf in einem Alleinvertriebsgebiet einem einzigen Händler exklusiv zuzuweisen. Vielmehr kann der Anbieter künftig ein Alleinvertriebsgebiet sich selbst oder höchstens fünf Abnehmern exklusiv zuteilen – weiterhin freilich nur für den aktiven Verkauf. Zudem kann ein Lieferant künftig von seinen Exklusiv-Händlern verlangen, dass diese das Verbot des aktiven Verkaufs in andere Alleinvertriebsgebiete an ihre „Direktkunden“ weiterreichen. Derartige Beschränkungen der „zweiten Abnehmerstufe“ waren nach der Vorgängerregelung noch strikt untersagt.
Keine Vertikalpreisbindung bei Erfüllungsverträgen (Vertikalleitlinien, Rn.193)
Auch im Bereich der Vertikalpreisbindung ergibt sich in dem für die internationale Vertriebspraxis wichtigen Fall der Preisvorgaben bei „Erfüllungsverträgen“ eine wichtige Änderung aus den neuen Vertikalleitlinien: Im Fall eines Erfüllungsvertrages vereinbart der Lieferant mit dem Endkunden einen Preis für das Vertragsprodukt oder die -dienstleistung; der in der Wertschöpfungskette zwischen dem Lieferanten und dem Endkunden stehende Abnehmer (in der Praxis etwa der Vertragshändler) führt diese vorherige Vereinbarung lediglich aus. Künftig sieht die Kommission das Verbot der Vertikalpreisbindung nicht mehr als verletzt an, wenn der Lieferant das Unternehmen auswählt, das die Erfüllungsleistungen erbringt. Wird dagegen das Unternehmen, das die Erfüllungsleistungen erbringt, vom Kunden ausgewählt, kann die Vorgabe eines Weiterverkaufspreises durch den Anbieter den Wettbewerb um die Erbringung der Erfüllungsleistungen einschränken.
Verbot der Blockade des Internetvertriebs / Zuläs-sigkeit von Plattformverboten (Art. 4 lit. e))
Eine neue explizite Kernbeschränkung hat die Kommission für „die Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets zum Verkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen durch den Abnehmer oder seine Kunden“ eingeführt. In der Praxis wird sich hierdurch wenig ändern: Das Totalverbot des Internetvertriebs wurde auch bisher schon als Kernbeschränkung angesehen, wenngleich die Rechtsgrundlage dafür eher fragwürdig war. Demgegenüber sind andere Beschränkungen des Online-Verkaufs oder Beschränkungen der Online-Werbung, die nicht darauf abzielen, die Nutzung eines ganzen Online-Werbekanals zu verhindern, gruppenfreigestellt. Hierunter fällt auch das Verbot des Lieferanten an seine Abnehmer, die Vertragsprodukte über Onlineplattformen weiterzuverkaufen.
Wettbewerbsverbote / Markenzwang (Art. 5 Abs. 1 lit. a))
Eine kleine, aber in der Praxis bedeutsame Kurskorrektur nahm die Kommission dadurch vor, dass sie „evergreen clauses“, denen zufolge sich ein befristetes Wettbewerbsverbot mit seinem Ablauf automatisch verlängert, als unschädlich ansieht, sofern die Vereinbarung mit angemessener Kündigungsfrist gekündigt bzw. zu angemessenen Kosten wirksam neu verhandelt werden kann. Dies ändert aber nichts daran, dass Wettbewerbsverbote – wie bisher – auf maximal fünf Jahre befristet werden müssen, um gruppenfreigestellt zu sein.
Keine Gruppenfreistellung für „weite“ Meistbegüns-tigungsklauseln (Art. 5 Abs. 1 lit. d))
Eine neue „graue“ Klausel betrifft die sog. „weite“ Meistbegünstigungsklausel, der zufolge einem Abnehmer von Online-Vermittlungsdiensten (beispielsweise ein Hotelbetreiber) vom Anbieter dieser Vermittlungsdienste untersagt wird, seine Waren oder Dienstleistungen Endverbrauchern über konkurrierende Online-Vermittlungsdienste (also z.B. auf einer anderen Hotelbuchungsplattform) günstiger anzubieten. „Enge“ Meistbegünstigungsklauseln, nach denen lediglich das Einstellen von günstigeren Angeboten im eigenen Vertrieb (etwa über die eigene Website) untersagt wird, bleiben weiterhin gruppenfreigestellt, sofern die übrigen Freistellungsvoraussetzungen erfüllt sind, also insbesondere die doppelte Marktanteilsschwelle nicht überschritten wird.
Fazit
Die Vertikal-GVO 2022 wird die vertriebskartellrechtliche Landschaft bis zum Jahr 2034 prägen. Inhaltlich reagiert die Kommission auf verschiedene aktuelle Diskussionen in der Anwendung der Vertikal-GVO 2010 und ist erkennbar um sachgerechte und praktikable Lösungen bemüht. Angesichts immer kürzerer Innovationszyklen und des ungebrochenen Siegeszugs des e-commerce ist indes bereits jetzt die Frage zu stellen, ob und wie es das neue „Grundgesetz der Vertriebssysteme“ schaffen wird, über einen derart langen Zeitraum einen für die jeweils aktuellen vertrieblichen Gestaltungen passenden Rahmen zu bilden.