Update Kartellrecht, 13. September 2021
Neuer Rahmen für die Vertriebsarbeit – Zum Entwurf einer neuen Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung
Im Dickicht der rechtlichen und ökonomischen Wertungen des Vertriebskartellrechts ist sie der sichere Hafen: die Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („Vertikal-GVO“). Wer sich im Rahmen der Vertikal-GVO bewegt, muss kein kartellrechtliches Bußgeld fürchten. Nach elf Jahren tritt die aktuelle Vertikal-GVO 330/2010 im kommenden Jahr außer Kraft. Der Entwurf zur neuen Vertikal-GVO („Vertikal-GVO-E“) enthält einige gravierende Neuerungen.
Wer ist von der Vertikal-GVO betroffen?
In nahezu jeder Lieferkette sind die Regelungen der Vertikal-GVO zu beachten: überall dort, wo Lieferant und Abnehmer sich über die reine Abnahme hinaus auf exklusive Bindungen, Weitverkaufs- oder Bezugsbeschränkungen verständigen. Die Vertikal-GVO prägt daher mit den flankierenden Vertikalleitlinien die Vertriebsrechtspraxis. Gerade die sogenannten „Kernbeschränkungen“, auch „schwarze Klauseln“ genannt, prägen Absatzbeziehungen in nahezu allen Branchen.
Was regelt die Vertikal-GVO?
Vertikale Vereinbarungen sind vom Kartellverbot des Art. 101 AEUV freigestellt, wenn sie die Voraussetzungen der Vertikal GVO einhalten. Vertikale Vereinbarungen sind Vereinbarungen, die (1.) zwischen Unternehmen auf unterschiedlichen Stufen der Produktions- oder Vertriebskette geschlossen werden und (2.) Bedingungen betreffen, zu denen die beteiligten Unternehmen Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen dürfen, vgl. Art. 1 Nr. 1 lit. a Vertikal-GVO. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des „sicheren Hafens“ (also für die Gruppenfreistellung) ist dabei insbesondere, dass die beteiligten Unternehmen auf dem relevanten Markt jeweils nicht mehr als 30 Prozent der Marktanteile innehaben, Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO und gegen keine Kernbeschränkung verstoßen, Art. 4 Vertikal-GVO. Wird dagegen nur eine weniger gravierende Beschränkung, eine sog. „graue Klausel“ nach Art. 5 Vertikal-GVO vereinbart, ist nur die entsprechende Vertragsklausel nicht von der Gruppenfreistellung erfasst.
Was ist neu?
Der große Rahmen der Vertikal-GVO soll nach dem aktuellen Entwurf der EU-Kommission unverändert bleiben. Neu im Entwurf sind aber einige scheinbar weniger gravierende Aspekte, die teilweise aber eine recht große Reichweite haben:
Schutz der effektiven Nutzung des Internets
Beschränkungen der effektiven Nutzung des Internets werden im Entwurf der Vertikal-GVO nun (auch offiziell) als Kernbeschränkung behandelt, vgl. Art. 4 lit. b), c) und d) Vertikal-GVO-E. Dagegen wurden sog. Doppelpreissysteme nicht per se als Kernbeschränkungen gelistet. Sie wären freigestellt, sofern sie die effektive Nutzung des Internets nicht beschränken.
Kombination aus selektivem und exklusivem Vertrieb?
Die EU-Kommission gliedert im Entwurf der Vertikal-GVO die Kernbeschränkungen neu und gibt ein detailliertes Konzept für selektive, exklusive und freie Vertriebssysteme (vgl. Art. 4 lit b) bis c)). Zu beachten ist dabei, diese verschiedenen Systeme nicht in ein und demselben Gebiet zu kombinieren, sondern nur in unterschiedlichen Gebieten.
Dualvertrieb & Großhandelsstufe
Eine erhebliche Änderung ist bei der Regelung zum Dualvertrieb, Art. 2 Abs. 4 lit. a und Abs. 5 Vertikal-GVO-E, beabsichtigt. Hier soll der Verkauf vom Prinzipal an den Großhändler nun (explizit) nicht mehr gruppenfreigestellt sein, wenn Prinzipal und Großhändler Wettbewerber auf der Großhandelsebene sind. Dagegen sollen die Verkäufe des Herstellers oder Großhändlers an den Einzelhändler weiterhin grundsätzlich im sicheren Hafen der Vertikal-GVO-E angesiedelt sein. Zu hoffen bleibt, dass die Kommission die Verschärfung zu Lasten der Vertriebsbeziehungen zwischen dem Hersteller, der selbst auf der Großhandelsebene vertreibt, und unabhängigen Großhändlern eventuell nochmals überdenkt.
Dualvertrieb & horizontaler Informationsaustausch
Auch für den horizontalen Informationsaustausch im Dualvertriebsverhältnis wird die Rechtslage nicht gerade einfacher: Wenn Anbieter und Abnehmer auf dem Einzelhandelsmarkt im Wettbewerb stehen und gemeinsam nicht mehr als [10] Prozent (die genaue Höhe der Marktanteile ist dabei aktuell noch in der Diskussion) der Marktanteile auf diesem relevanten Einzelhandelsmarkt haben, soll auch der horizontale Informationsaustausch im Rahmen der Vertikal-GVO freigestellt sein. Liegt der Marktanteil dagegen zwischen [10] Prozent und 30 Prozent, sei der Informationsaustausch nicht freigestellt und nach Art. 101 AEUV zu bewerten, vgl. Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO-E. Bezweckt der Informationsaustausch Wettbewerbsbeschränkungen, sei er nie freigestellt, vgl. Art. 2 Abs. 6 Vertikal-GVO-E. Allerdings ist nur schwer zu beurteilen, welche Wettbewerbsbeschränkungen als „bezweckt“ angesehen werden müssen. Die Antwort auf die Frage, ob man sich im Anwendungsbereich der Gruppenfreistellung befindet, würde mit dieser Regelung erheblich erschwert.
(hybride) Onlinevermittlungsdienste
Vollkommen neu sind die Bestimmungen zu Onlinevermittlungsdiensten. Onlinevermittlungsdienste sollen als Anbieter gelten, Art. 1 Nr. 1 lit. d Vertikal-GVO-E, und damit grundsätzlich der Vertikal-GVO unterfallen. Anders soll die Rechtslage für sog. hybride Onlinevermittlungsdienste ausgestaltet werden. Diese stehen beim Verkauf von Waren oder Dienstleistungen mit Unternehmen im Wettbewerb, für die sie Online-Vermittlungsdienste erbringen. Diese hybriden Onlinevermittlungsdienste sollen laut Entwurf nicht den „sicheren Hafen“ der Vertikal-GVO genießen.
Preisparitätsklauseln (Meistbegünstigungsklauseln) bei Online-Vermittlungsdiensten
Sog. „weite Preisparitätsklauseln“ bei Online-Vermittlungsdiensten werden neu bei den sog. „grauen Klauseln“ in Art. 5 Abs. 1 lit. d) Vertikal-GVO-E aufgelistet. Nicht freigestellt wären demnach Verpflichtungen, die Abnehmer von Online-Vermittlungsdiensten veranlassen, Waren oder Dienstleistungen den Endverbrauchern bei konkurrierenden Online-Vermittlungsdiensten nicht günstiger anzubieten bzw. zu verkaufen.
Stillschweigende Verlängerung von Wettbewerbsverboten
Wettbewerbsverbote, deren Laufzeit weniger als fünf Jahre beträgt, die sich aber stillschweigend verlängern, sollen zukünftig von der Gruppenfreistellung erfasst sein.
Agentur / Handelsvertreterprivileg
Die flankierenden Leitlinien zum Entwurf stellen klar, dass Online-Vermittlungsdienste nicht als Handelsvertreter angesehen werden (Rn. 44). Hier finden sich auch detaillierte neue Ausführungen zum Handelsvertreter mit Doppelprägung (d.h. Handelsvertreter, die gleichzeitig auch als Händler auftreten) sowie zur Zuordnung der jeweiligen Kostenblöcke.
Fazit und Ausblick
Das von der EU-Kommission vorgelegte Dokument ist zunächst nur ein Entwurf als Grundlage für die Konsultation der Kommission. Seit seiner Veröffentlichung hat sich bereits eine lebhafte Diskussion unter Unternehmen, Kartellrechtsanwälten und Verbänden ergeben. Inwiefern die Kommission in den kommenden Monaten die eine oder andere Anregung aus dem Diskurs noch aufgreift, bleibt abzuwarten. Am 1. Juni 2022 soll die neue Vertikal-GVO in Kraft treten.