Update Compliance 172
Bundesverfassungsgericht: Staatsanwaltschaften dürfen Kronzeugenanträge an Zivilgerichte herausgeben
Schadenersatzkläger in Kartellsachen versuchen mit Nachdruck, an die Kronzeugenanträge zu kommen, welche die Kartellanten beim Bundeskartellamt oder bei der EU-Kommission gestellt haben. Ein Weg besteht darin, beim Zivilgericht die Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte samt der darin befindlichen Kronzeugenanträge und sonstiger im Wege der Akteneinsicht nicht zu erlangender Informationen zu beantragen. Verfassungsrechtliche Einwände gegen die Herausgabe durch die Staatsanwaltschaft an die Zivilgerichte hat das Bundesverfassungsgericht nun abgeschmettert.
In kartellrechtlichen Schadenersatzklagen kommt den Geschädigten die Tatbestandswirkung des § 33 Abs. 4 GWB zugute. Dies bedeutet, dass die Geschädigten sich auf bestandskräftige Bußgeldentscheidungen des Bundeskartellamts und/oder der Europäischen Kommission stützen können, um darzulegen, dass der jeweilige Anspruchsgegner an dem Kartell beteiligt war. Schwieriger steht es meist um den Nachweis des Schadens. Trotz der Möglichkeiten der Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO gelingt es den Anspruchstellern oft nicht nachzuweisen, wie hoch etwa die Differenz zwischen dem kartellbedingt überhöhten Preis und dem fiktiven „echten“ Marktpreis ist. Die Akteneinsicht in die Bußgeldbescheide hilft insbesondere dann nicht weiter, wenn sich die Kartellanten mit der Kartellbehörde auf ein Settlement verständigt haben: In diesen Fällen ergeht ein deutlich abgekürzter Bußgeldbescheid. Wertvolle Hinweise auf die Schadenshöhe können sich dagegen aus den Kronzeugen- bzw. Bonusanträgen ergeben, die von einzelnen oder mehreren Kartellanten bei der EU-Kommission oder beim Bundeskartellamt eingereicht wurden. Akteneinsicht wird insoweit jedoch üblicherweise verwehrt. Zunehmend versuchen daher Schadenersatzkläger, bei den Zivilgerichten die Beiziehung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten zu erreichen, in denen sich im Idealfall auch die Kronzeugen- bzw. Bonusanträge befinden.
Diesen Weg beschritten verschiedene Bauunternehmen, die im Dezember 2010 vor dem Landgericht Berlin Schadenersatzklage gegen mehrere am Aufzugkartell beteiligte Unternehmen erhoben hatten. Die Zivilkammer beschloss, dass die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft beigezogen würden. Die Staatsanwaltschaft wiederum teilte den beklagten Unternehmen mit, sie wolle die beantragte Akteneinsicht auch gewähren. Vor einer Weitergabe von Teilen der staatsanwaltschaftlichen Akte an die Kläger werde das Landgericht nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft die erforderliche Interessenabwägung vornehmen. Der gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde vom Oberlandesgericht verworfen. Die beklagten Unternehmen erhoben daraufhin Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts und beriefen sich inhaltlich insbesondere auf den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nach Art. 12 Abs. 1 GG sowie auf die informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 GG.
Die Verfassungsbeschwerden wurden jedoch nicht zur Entscheidung angenommen. Das Bundesverfassungsgericht hielt in seinem Beschluss vom 6. März 2014 (1 BvR 3541/13, 1 BvR 3543/13, 1 BvR 3600/13) ausdrücklich fest, die Auslegung der maßgeblichen Vorschriften aus der Straf- und Zivilprozessordnung durch das OLG seien verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Praxishinweis
In der Praxis ergeben sich erhebliche Konsequenzen für kartellrechtliche Schadenersatzklagen:
• Befinden sich die Akten einmal beim Zivilgericht, obliegt es diesem, unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden, ob und welche Teile der Ermittlungsakte an den/die Kläger weitergegeben werden. In diese Abwägung werden die Gerichte auch eine Erwägung einbeziehen, welche das BVerfG in seinem Beschluss unter Bezugnahme auf die Entscheidungspraxis des EuGH besonders betonte: dass nämlich kartellrechtliche Schadenersatzprozesse „der Geltendmachung von Ansprüchen dienen, die die Rechtsordnung als schützenswert anerkannt hat“.
• Soweit das Gericht aufgrund der Interessenabwägung die Weitergabe der Akten ablehnt, können diese Aktenteile wegen des Grundrechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG auch nicht in das Verfahren vor dem Zivilgericht einbezogen werden. Nicht zu vermeiden ist freilich, dass das Zivilgericht selbst in vollem Umfang Einblick in die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte erhält, aus der sich in aller Regel wichtige Hinweise für die Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO ergeben werden. Mag auch der Kläger verpflichtet sein, dem Richter die Grundlagen für die Schadenschätzung an die Hand zu geben, so muss doch die Beklagtenseite damit leben, dass der Richter in der Praxis aus seiner Arbeit mit der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte zwangsläufig einen Eindruck von den jeweiligen Marktverhältnissen und den Inhalten der Kronzeugen- bzw. Bonusanträge erhält.
• Unternehmen, die einen Kronzeugenantrag bei der EU-Kommission oder einen Bonusantrag beim Bundeskartellamt stellen wollen, müssen sich daher auch in Zukunft genau überlegen, ob dies im Hinblick auf spätere Schadenersatzklagen tatsächlich sinnvoll ist. Das Dilemma wird durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls nicht kleiner.