31.10.2024Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht Oktober 2024

Außerordentliche Kündigung wegen vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit bei Teilnahme an einem Turnlehrgang wirksam

LAG Niedersachsen, Urteil vom 08. Juli 2024 - 15 SLa 127/24

A. Sachverhalt

Die Klägerin war seit dem 1. Dezember 2007 bei der Beklagten als Sekretärin in einer Grundschule beschäftigt.

Zwischen der Klägerin und der Schulleiterin der Beklagten fand Anfang September 2022 ein Personalgespräch statt, in dem die Schulleiterin der Klägerin mitteilte, dass ihr zu Beginn der niedersächsischen Sommerferien am 6. Juli 2023 und an den darauffolgenden Tagen kein Urlaub gewährt werden könne. Damit war die Klägerin nicht einverstanden und bestand auf eine Urlaubsgewährung. Diese wurde von der Beklagten jedoch weiterhin nachdrücklich abgelehnt.

Am 5. Juli 2023 teilte die Klägerin der Schulleiterin telefonisch mit, eine Magen-Darm-Grippe zu haben und legte sodann für die Zeit vom 5. Juli 2023 bis zum 7. Juli 2023 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Gleichwohl nahm die Klägerin am 6. Juli 2023 an einem Trainer-Lizenz-Lehrgang (C-Lizenz) bei der Landesturnschule teil. Sodann hörte die Beklagte die Klägerin am 7. Juli 2023 wegen des Verdachts einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit an. Daraufhin teilte die Klägerin mit Schreiben vom 10. Juli 2023 mit, sie habe in der Nacht von Dienstag (4. Juli 2023) auf Mittwoch (5. Juli 2023) starke Bauchschmerzen und Übelkeit gehabt, das Schlucken habe ihr wehgetan und sie habe Kopfschmerzen gehabt. Am 5. Juli 2023 habe sie dann ihren Arzt aufgesucht, der sie für drei Tage krankgeschrieben habe. Nach Einnahme der verschriebenen Medikamente sei jedoch umgehend eine Besserung eingetreten. Die Klägerin gehe davon aus, dass die Symptome teilweise psychosomatisch bedingt gewesen seien. Am 6. Juli 2023 habe sie sich weiterhin „okay“ gefühlt und daher beschlossen, an dem Trainer-Lizenz-Lehrgang bei der Turnschule teilzunehmen.

Mit Schreiben vom 13. Juli 2023 informierte die Beklagte den bei ihr gebildeten Personalrat über die beabsichtigte außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin. Der Personalrat teilte mit Schreiben vom 17. Juli 2023 mit, dass kein Einverständnis mit der Kündigung bestehe. Sodann teilte die Beklagte dem Personalrat mit Schreiben vom 18. Juli 2023 mit, dass die außerordentliche fristlose Kündigung gleichwohl ausgesprochen werde.

Die Beklagte kündigte das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 18. Juli 2023 außerordentlich fristlos als Tat- und Verdachtskündigung.

Gegen diese Kündigung erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht Osnabrück. Dieses hat die Klage mit Urteil vom 31. Januar 2024 (Az. 4 Ca 244/23 Ö) abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin sodann Berufung zum Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingelegt.

B. Entscheidungsgründe

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen.

Das Arbeitsverhältnis habe durch die außerordentliche fristlose Kündigung vom 18. Juli 2023 mit ihrem Zugang bei der Klägerin am selben Tag sein Ende gefunden. Es hielt die ausgesprochene Kündigung für wirksam.

I. Wichtiger Grund nach § 626 BGB

In dem Verhalten der Klägerin sei eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit zu sehen, die nach herrschender Rechtsprechung „an sich“ dazu geeignet ist, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 BGB darzustellen.

Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin in der Zeit vom 5. Juli 2023 bis zum 7. Juli 2023 nicht arbeitsunfähig gewesen sei. 

Zwar sei an sich die Beklagte als Arbeitgeberin darlegungs- und beweisbelastet dafür, dass die Klägerin trotz der von ihr vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung tatsächlich in der bescheinigten Zeit nicht arbeitsunfähig war. Als Arbeitgeberin obliege der Beklagten grundsätzlich der Vollbeweis für das Vorliegen eines Kündigungsgrundes. Die Klägerin sei jedoch der sie daraufhin treffenden sekundären Darlegungslast nicht ausreichend nachgekommen, mit der Folge, dass der Vortrag der Beklagten als zugestanden galt.

1. Sekundäre Darlegungslast bei negativen Tatsachen

Zwar handelt es sich bei dem Nichtvorliegen der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin um eine sog. „negative Tatsache“. Dies führt jedoch nicht zu einer Verschiebung bzw. zu einer Umkehr der Beweislast. Es reiche daher im vorliegenden Fall aus, wenn die beklagte Arbeitgeberin das Nichtvorliegen der Arbeitsunfähigkeit zunächst behauptet. Dieser Behauptung dürfe die Klägerin dann nicht mit einem bloßen einfachen Bestreiten begegnen, sondern sie müsse im Rahmen der sie treffenden sekundären Darlegungslast vortragen, welche tatsächlichen Umstände für das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit sprechen. Die Beklagte müsse sodann darlegen- und beweisen, dass dieser Vortrag der Klägerin nicht zutrifft.

Bei der sekundären Darlegungslast für negative Tatsachen handelt es sich um eine eigenständige prozessuale Rechtsfigur. Dem Prozessgegner ist es danach nur erlaubt, das Vorliegen einer negativen Tatsache (einfach) zu bestreiten, wenn er aus eigener Kenntnis oder aufgrund von Nachforschungen das von ihm behauptete Geschehen (hier die Arbeitsunfähigkeit) in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht substantiiert darlegen kann. Gelingt ihm (hier der Klägerin) dies nicht, so ist zu seinem Nachteil davon auszugehen, dass die von ihm im Rahmen der sekundären Darlegungslast zu schildernde Tatsache (hier die Arbeitsunfähigkeit) nicht vorliegt.

Dem Arbeitgeber, der grundsätzlich voll beweisbelastet für das Vorliegen eines Kündigungsgrundes ist, kann nicht zugemutet werden, nachzuweisen, dass zum Zeitpunkt der Krankmeldung keine irgendwie geartete Erkrankung vorgelegen hat. Daher ist es Sache des Arbeitnehmers, im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast dazu vorzutragen, welche konkreten Krankheiten bzw. Krankheitssymptome zum Zeitpunkt der Krankmeldung vorgelegen haben und aus welchen Gründen der Arbeitnehmer davon ausgehend durfte, auch noch an dem betreffenden Tag arbeitsunfähig zu sein. Erst wenn der Arbeitnehmer insoweit seiner Substantiierungspflicht nachgekommen ist und gegebenenfalls seine ihn behandelnden Ärzte von der Schweigeplicht entbunden hat, muss der Arbeitgeber aufgrund der ihm obliegenden Beweislast den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers entkräften (vgl. dazu BAG, Urteil vom 12.03.2009 - 2 AZR 251/07, juris).

2. Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Vorliegend konnte die Klägerin der ihr obliegenden sekundären Darlegungslast allein durch die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 5. Juli 2023 nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht genügen. Denn der Beweiswert dieser Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert gewesen.

a) Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorlegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung bezogen auf die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu entziehen. Daher kommt der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Daher genügt ein bloßes Bestreiten der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers geben, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zu kommt. Die den Beweiswert erschütternden Tatsachen können sich dabei aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers oder aus der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben.

b) Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Im vorliegenden Fall kam das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis, dass der Beweiswert der von der Klägerin vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei.

Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit ergäben sich zunächst daraus, dass die Klägerin für den Zeitraum, für den die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt worden ist, unstreitig zuvor Urlaub begehrt hat, der ihr nicht genehmigt worden ist, obwohl sie nachdrücklich auf die Gewährung von Urlaub für diesen Zeitraum bestanden hat. Das Zusammenfallen der Arbeitsunfähigkeit mit diesem Zeitraum könne zwar auch Zufall sein, es begründe aber erste Zweifel an dem Bestehen der Arbeitsunfähigkeit.

Diese Zweifel würden verstärkt durch die Teilnahme der Klägerin an dem Trainer-Lizenz-Lehrgang bei der Turnschule am 6. Juli 2023 während der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Zwar bedeute die Teilnahme an diesem Lehrgang nicht notwendigerweise, dass die Klägerin tatsächlich nicht arbeitsunfähig gewesen ist. Vielmehr seien auch Krankheitsumstände denkbar, die zwar zur Arbeitsunfähigkeit führen, der Teilnahme an einem solchen Lehrgang aber nicht entgegenstehen. Bereits dazu habe die Klägerin vorliegend jedoch nicht hinreichend substantiiert vorgetragen, indem sie zu der genauen Ursache ihrer Arbeitsunfähigkeit keine Angaben gemacht hat. Der Vortrag, es habe sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine Magen-Darm-Grippe gehandelt, die aller Wahrscheinlichkeit nach psychosomatisch bedingt war, reichte aus Sicht der Kammer nicht aus. Hinzu komme, das davon auszugehen sei, dass die Klägerin von Anfang an beabsichtigt habe, trotz ihrer bestehenden Arbeitsverpflichtung an dem Lehrgang bei der Landesturnschule am 6. Juli 2023 teilzunehmen, da sie für diesen Tag zuvor nachdrücklich Urlaub begehrt hatte. Es sei davon auszugehen, dass die Teilnahme an einem Trainer-Lizenz-Lehrgang nur nach einer Voranmeldung möglich ist, woraus folge, dass sich die Klägerin im Vorfeld zu diesem Lehrgang angemeldet und sich sodann trotz der Verweigerung von Urlaub für diesen Tag durch die Beklagte nicht wieder abgemeldet habe. Zu der ausdrücklichen Nachfrage des Gerichts, wann sich die Klägerin für den Trainer-Lizenz-Lehrgang angemeldet habe, gab diese keine Erklärung ab.

II. Interessenabwägung

Auch die vorzunehmende Interessenabwägung geht im vorliegenden Fall nach Einschätzung der Kammer zulasten der Klägerin aus.

Insbesondere hielt die Kammer die außerordentliche fristlose Kündigung auch ohne vorherige Abmahnung für wirksam. In dem Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit liege eine schwerwiegende Pflichtverletzung. Denn ein Arbeitnehmer, der sich für die Zeit einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit von seinem Arbeitgeber Entgeltfortzahlung gewähren lässt, begehe damit einen Betrug gemäß § 263 Abs. 1 StGB zulasten seines Arbeitgebers (vgl. dazu BAG, Urteil vom 29.06.2017 - 2 AZR 597/16, juris). Das Gericht kam daher zu der Einschätzung, dass die Klägerin nicht mit der auch nur einmaligen Hinnahme einer derart schwerwiegenden Pflichtverletzung durch ihren Arbeitgeber rechnen durfte.

Zugunsten der Klägerin seien zwar ihr Lebensalter, ihre Betriebszugehörigkeit sowie ihr bis dato störungsfrei verlaufenes Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen gewesen. Jedoch läge in dem Verhalten der Klägerin ein erheblicher Vertrauensverstoß, zumal ihr zuvor mitgeteilt worden war, dass ihr für den 6. Juli 2023 kein Urlaub gewährt werden könne. Dabei käme es auch nicht darauf an, ob die Versagung von Urlaub durch die Beklagte sachlich gerechtfertigt war. Diese Frage hätte die Klägerin gerichtlich klären lassen können. Diesen Weg hat die Klägerin jedoch bewusst nicht beschritten, sondern hat sich in Kenntnis der Tatsache, dass ihr kein Urlaub für den betreffenden Tag gewährt wurde, zu dem Trainer-Lizenz-Turnlehrgang entweder angemeldet oder von diesem nicht abgemeldet.

C. Praxishinweis

In der vorliegenden Entscheidung stellt das Landesarbeitsgericht Niedersachsen anschaulich die für den Beweis sog. „negativer Tatsachen“ geltenden Grundsätze der sekundären Darlegungslast dar. Die Entscheidung folgt zudem der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, wonach eine vorsätzliche vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit den Arbeitgeber ohne vorherige Abmahnung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses berechtigt.

Dem Landesarbeitsgericht ist dahingehend zuzustimmen, dass der Beweiswert der von der Klägerin vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein dürfte, zumal diese vorher für denselben Tag, an dem sie am Ende eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hat, nachdrücklich Urlaub begehrt hatte. Als ihr dieser nicht genehmigt wurde, hat sie ihre eigene Arbeitsunfähigkeit vorgespiegelt, um an einem Trainer-Lizenz-Turnlehrgang teilzunehmen, der nach allgemeiner Lebenserfahrung eine Voranmeldung voraussetzt. In Kenntnis dessen, dass ihr von ihrem Arbeitgeber kein Urlaub gewährt wurde, hat sie sich gleichwohl zu dem Turnlehrgang angemeldet bzw. sich von diesem nicht wieder abgemeldet. Im Gegenzug hat die Klägerin keinen substantiierten Tatsachenvortrag über die Ursache ihrer Arbeitsunfähigkeit sowie darüber, dass diese sie zwar an der Erbringung ihrer Arbeitsleistung, nicht dagegen an der Teilnahme an dem Trainer-Lizenz-Turnlehrgang hindert, geleistet.

Ein weiterer Fall, in dem die Rechtsprechung den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert ansieht, ist die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch einen Arbeitnehmer unmittelbar nach einer (arbeitgeberseitigen oder arbeitnehmerseitigen) Kündigung passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist in Kombination mit einer sodann eintretenden „Spontangesundung“ des Arbeitnehmers punktgenau zu Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses am Folgetag nach Ablauf der Kündigungsfrist (vgl. BAG, Urteil vom 13.12.2023 - 5 AZR 137/23). Mit dieser Entscheidung hatten wir uns bereits in der Januar-Ausgabe unseres Updates Arbeitsrecht auseinandergesetzt.

Gleichwohl bleibt es auch vor dem Hintergrund der beiden Entscheidungen dabei, dass es für Arbeitgeber in vielen Fällen schwer ist, den Sachvortrag eines Arbeitnehmers zu dem tatsächlichen Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit zu entkräften und so eine Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachzuweisen. Daher ist Arbeitgebern zu raten, jedes verdächtige außerdienstliche Verhalten während eines Zeitraums, für den ein Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hat, sorgfältig zu dokumentieren.

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