Update Arbeitsrecht Januar 2024
Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
BAG Urt. v. 13.12.2023 - 5 AZR 137/23
In der betrieblichen Praxis kommt es immer häufiger vor, dass sich Arbeitnehmer im Falle einer (arbeitgeberseitigen oder arbeitnehmerseitigen) Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist passgenau krankschreiben lassen und sodann pünktlich am ersten Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist im Wege einer „Spontangenesung“ wieder arbeitsfähig werden und eine neue Beschäftigung antreten. Für den Zeitraum der ordnungsgemäß von einem Arzt bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begehren die Arbeitnehmer dann Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG.
Zu dieser Fallkonstellation hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 13. Dezember 2023 entschieden, dass der Beweiswert einer (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dann erschüttert sein kann, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen und er sodann unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
Sachverhalt
Der Kläger war seit März 2021 bei der Beklagten als Helfer beschäftigt. Am Montag, den 02. Mai 2022 legte er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 02. bis zum 06. Mai 2022 vor. Ebenfalls mit Schreiben vom 02. Mai 2022, dem Kläger zugegangen am 03. Mai 2022, kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht zum 31. Mai 2022. Sodann legte der Kläger zwei Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Zunächst wurde dessen Arbeitsunfähigkeit mit Folgebescheinigung vom 06. Mai 2022 bis zum 20. Mai 2022 und anschließend mit Folgebescheinigung vom 20. Mai 2022 bis zum 31. Mai 2022 (der auf einen Dienstag fiel) bescheinigt.
Ab dem 01. Juni 2022 nahm der Kläger unmittelbar eine neue Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber auf, war also wieder arbeitsfähig.
Die Beklagte ist der Ansicht, sie sei nicht zur Entgeltfortzahlung verpflichtet, da der Beweiswert der von dem Kläger vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei. Der Kläger wendet sich dagegen mit dem Argument, seine Arbeitsunfähigkeit habe bereits vor dem Zugang des Kündigungsschreibens am 03. Mai 2022, nämlich bereits ab dem 02. Mai 2022 bestanden.
Sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch das Berufungsgericht gaben der auf Entgeltfortzahlung für den Monat Mai gerichteten Klage statt.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Revision zum Bundesarbeitsgericht.
Entscheidungsgründe des Bundesarbeitsgerichts
Die Revision zum Bundesarbeitsgericht hatte zu einem Großteil - nämlich hinsichtlich des Zeitraums vom 07. Mai 2022 bis zum 31. Mai 2022 - Erfolg.
Zwar könne ein Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich mittels einer ordnungsgemäß von einem Arzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachweisen, da es sich bei dieser um das gesetzlich vorgesehene Beweismittel handelt.
Der Beweiswert einer ordnungsgemäßen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann jedoch durch den Arbeitgeber erschüttert werden, wenn dieser tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben. Nicht entscheidend für den Beweiswert einer während der laufenden Kündigungsfrist ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei, ob es sich um eine arbeitnehmerseitige oder um eine arbeitgeberseitige Kündigung handelt und ob der Arbeitnehmer eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt hat.
In jedem Fall erforderlich sei eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände.
Diese gehe im vorliegenden Fall bezogen auf die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 02. Mai 2022 zugunsten des Arbeitnehmers aus. Der Beweiswert dieser Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei nicht erschüttert, da ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit (ab dem 02. Mai 2022) und dem Zugang der Kündigung (erst am 03. Mai 2022) nicht gegeben sei. Zum Zeitpunkt der Vorlage der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe der Kläger nachweislich noch keine Kenntnis von der seitens der Beklagten beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses gehabt, insbesondere nicht durch eine Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG.
Anders zu beurteilen sei die Rechtslage dagegen bezogen auf die beiden Folgebescheinigungen vom 06. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022. Der Beweiswert dieser beiden Folgebescheinigungen sei aufgrund objektiver Umstände erschüttert, da zwischen der Dauer der in den Folgebescheinigungen festgestellten Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist sehr wohl ein zeitlicher Zusammenhang bestehe. So sei der Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit ausweislich der Bescheinigungen passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - und damit bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses - verlängert worden. Infolge der Erschütterung des Beweiswertes der beiden Folgebescheinigungen trage nunmehr der Kläger die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in dem bescheinigten Zeitraum, die Voraussetzung des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG ist.
Das Bundesarbeitsgericht hat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dieses hat nun festzustellen, ob dem Kläger die Darlegung und der Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum vom 07. Mai 2022 bis zum 31. Mai 2022 gelingt.
Praxishinweis
Die Entscheidung folgt der bisherigen Rechtsprechungslinie des Bundesarbeitsgerichts, wonach der Beweiswert einer ordnungsgemäß von einem Arzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei Vorliegen objektiver Umstände, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben, erschüttert sein kann. Dabei lässt es das Bundesarbeitsgericht zur Erschütterung des Beweiswertes genügen, wenn die Arbeitsunfähigkeit dem Arbeitnehmer passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bescheinigt wird und sodann ab dem ersten Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist eine sogenannte „Spontangenesung“ eintritt. Diese Entscheidung ist zu begrüßen, da angesichts der in aller Regel beschränkten Kenntnis des Arbeitgebers von der Art und den Ursachen der Erkrankung des Arbeitnehmers an diesen keine allzu hohen Darlegungsanforderungen gestellt werden können. Im vorliegenden Fall erscheint die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für die gesamte Dauer bis zum Ablauf der Kündigungsfrist insbesondere deshalb zweifelhaft, da das neue Beschäftigungsverhältnis an einem Dienstag (dem 01. Juni 2022) - also mitten in der Woche - begann und der Arbeitnehmer bis zu dem Montag davor arbeitsunfähig gewesen sein will.
Die Erschütterung des Beweiswertes hat dann zur Folge, dass der Arbeitnehmer seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in dem bescheinigten Zeitraum anderweitig darlegen und durch andere Beweismittel als die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen beweisen muss. Seiner Darlegungslast kann er dadurch genügen, dass er zu der Art, den Ursachen sowie dem Verlauf seiner Krankheit vorträgt. Als Beweismittel kommen ein ärztliches Gutachten oder eine Zeugenaussage des behandelnden Arztes in Betracht, der für diesen Fall von seiner ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden wäre. Nur wenn der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf das Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in dem bescheinigten Zeitraum genügt, hat er gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 Abs. 1 EFZG.
Die vollständige Urteilsbegründung liegt derzeit noch nicht vor und bleibt mit Spannung abzuwarten.