21.03.2018Fachbeitrag

Update Restrukturierung 1/2018

Neues zur Zahlungsunfähigkeit – Passiva II

Der für Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat mit kürzlich veröffentlichtem Urteil vom 19.12.2017 (II ZR 88/16) erstmalig entschieden, dass bei der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit anhand einer Liquiditätsbilanz auch die innerhalb von drei Wochen fällig werdenden und eingeforderten Verbindlichkeiten (sog. Passiva II) einzubeziehen sind.

Abgrenzung der Zahlungsunfähigkeit zur Zahlungsstockung

Befindet sich ein Unternehmen in der Krise, gehört es – neben Restrukturierung und Sanierung des Unternehmens –  zu den existentiellen Aufgaben der Geschäftsführung, fortlaufend Liquiditätsbilanzen zu erstellen. Anhand dieser betriebswirtschaftlichen Methode wird ermittelt, ob eine im Zeitraum von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke von mindestens 10 % und infolge dessen der Insolvenzeröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) vorliegt.

Nach der Rechtsprechung des BGH werden auf der Aktivseite der Liquiditätsbilanz in erster Linie das vorhandene Barvermögen – beispielsweise Bankguthaben und Kassenbestand – sowie alle anderen am maßgeblichen Stichtag verfügbaren liquiden Mittel (sog. Aktiva I) angesetzt. Hinzu werden die innerhalb von drei Wochen flüssig zu machenden Mittel – hierunter fallen vor allem die in den folgenden drei Wochen zu erwartenden Zahlungseingänge – in die Liquiditätsbilanz aufgenommen (sog. Aktiva II).

Bisher: BGH-Rechtsprechung mit Interpretationsspielraum

Die bisherige Rechtsprechung des BGH bot indes einen weiten Interpretationsspielraum bei der Frage, welche Zahlungspflichten (Passiva) den Aktiva I und II gegenüber gestellt werden müssen. So waren nach dem BGH zwar eindeutig die zum maßgeblichen Stichtag fälligen und ernsthaft eingeforderten Verbindlichkeiten (sog. Passiva I) zu berücksichtigen. Ob dies aber auch für die innerhalb des Prognosezeitraums von drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten (sog. Passiva II) galt, war offen. Vieles deutete darauf hin, dass der BGH eine Einbeziehung der Passiva II bislang ablehnte.

„Bugwelle von Schulden“

Diese Frage hatte erhebliche Auswirkungen in der Praxis. Denn ohne die Einbeziehung der Passiva II müssen Unternehmen am maßgeblichen Stichtag mit den Aktiva I und II lediglich die Passiva I zu mindestens 90 % decken können, um nicht zahlungsunfähig zu sein. Ein Unternehmen in der Krise konnte damit bisher eine „Bugwelle von Schulden“ vor sich herschieben, weiterhin am Markt operieren und neue Verbindlichkeiten eingehen. Der für bestimmte juristische Personen und Gesellschaften verpflichtende Insolvenzantrag bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung (§ 15 a InsO) konnte so unter Umständen aufgeschoben werden.

Ab sofort: Einbeziehung auch der Passiva II

Der II. Senat des BGH erteilt mit seiner aktuellen Entscheidung dieser sog. „Bugwellentheorie“ nunmehr eine deutliche Absage. Explizit urteilte der BGH nun erstmals, dass im Rahmen der Zahlungsunfähigkeitsprüfung auch die Passiva II in die Liquiditätsbilanz miteinbezogen werden müssen und begründet dies mit dem vom Gesetzgeber intendierten Ziel, den Rechtsverkehr vor tatsächlich insolventen Unternehmen zu schützen, frühzeitig eine Insolvenzverfahrenseröffnung zu ermöglichen und damit optimale Sanierungschancen zu bieten.

Praktische Auswirkungen

Die Entscheidung des BGH ist unter dem Aspekt der Rechtssicherheit zu begrüßen. Für Geschäftsführer und Vorstände von Unternehmen in der Krise erhöht das Urteil zugleich die Anforderungen an die Zahlungsunfähigkeitsprüfung. In vielen Fällen wird damit der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit deutlich vorverlegt. Zum Schutz vor einer eigenen Haftung bleibt deshalb eine professionelle Krisen- und Sanierungsberatung unerlässlich.

Umgekehrt können Insolvenzverwalter in laufenden Insolvenzverfahren die persönliche Haftung von Geschäftsführern und Vorständen sowie die Anfechtung von Rechtsgeschäften noch einmal verstärkt in den Fokus nehmen. Durch die bisherige BGH-Rechtsprechung ist kein Vertrauensschutz in eine andere Bewertung entstanden; die jetzt vom BGH aufgestellten Grundsätze gelten damit grundsätzlich auch für „Altfälle“. 

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