Newsletter Health Care, Pharma & Life Sciences 1/2017
Vergabe von Rettungsdienstleistungen an gemeinnützige Organisationen ausschreibungsfrei
Gemäß § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ist das EU-Vergaberecht nicht auf die Vergabe von Rettungsdienstleistungen, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden, anwendbar. Diese Ausnahme gilt nicht für die Vergabe von Leistungen zur Patientenbeförderung im Krankenwagen, für die allerdings anderweitige vergaberechtliche Erleichterungen bestehen. Eine erste Entscheidung hierzu wurde am 19. August 2016 von der Vergabekammer Rheinland getroffen (Az. VK D-14/2016-L).
Seit dem 18. April 2016 ist in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB folgende Regelung enthalten:
„Dieser Teil (Anmerkung: der 4. vergaberechtliche Teil des GWB) ist nicht anzuwenden auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen zu Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und die unter die Referenznummern des Common Procurement Vocabulary 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3 mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung fallen; gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- oder Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind.“
Diese Regelung gilt für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen, deren geschätzte Auftragswerte die europäischen Schwellenwerte (die für Dienstleistungs- und Lieferaufträge derzeit bei 209.000 Euro und für Bauaufträge derzeit bei 5.225.000 Euro liegen) erreichen oder überschreiten. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB wurde im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer Rheinland relevant.
Dienstleistungen der Gefahrenabwehr
In dem entschiedenen Verfahren vergab eine Stadt Rettungsund qualifizierte Krankentransportdienstleistungen „freihändig“ unter Berufung auf § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB an gemeinnützige Hilfsorganisationen.
Eine private Hilfsorganisation reichte gegen die Direktvergabe einen Nachprüfungsantrag ein. Die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB sei insbesondere deshalb nicht einschlägig, weil die Rettungs- und qualifizierten Krankentransportdienstleistungen keine „Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr“ darstellten. „Gefahrenabwehr“ liege nur in engen Ausnahmefällen vor. Gefahrenabwehr setze Extremereignisse voraus, die zu den in der Regelung enthaltenen Begrifflichkeiten „Katastrophenschutz“ und „Zivilschutz“ qualitativ gleichwertig sein.
Die Vergabekammer Rheinland verwarf diese Argumente und entschied, dass bereits übliche Rettungsdienstleistungen (Notfallrettung) der Gefahrenabwehr im Sinne von § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB dienten. Folglich sei die Vergabekammer nicht zuständig und der Nachprüfungsantrag unzulässig.
Die Vergabekammer Rheinland verwies zur Begründung insbesondere auf Erwägungsgrund 28 der EU-Richtlinie 2014/24/EU, auf der das neue, deutsche EU-Vergaberecht basiert. Darin heißt es:
„Diese Richtlinie sollte nicht für bestimmte von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbrachte Notfalldienste gelten, da der spezielle Charakter dieser Organisationen nur schwer gewahrt werden könnte, wenn die Dienstleistungserbringer nach den in dieser Richtlinie festgelegten Verfahren ausgewählt werden müssten. Diese Ausnahme sollte allerdings nicht über das notwendigste Maß hinaus ausgeweitet werden. Es sollte daher ausdrücklich festgelegt werden, dass der Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung nicht ausgenommen sein sollte.“
Unter Berücksichtigung dieses Erwägungsgrunds befürchtete die Vergabekammer Rheinland für den Fall, dass die Bereichsausnahme nur in Extremsituationen greifen würde und gemeinnützige Organisationen ansonsten dem Wettbewerb unterstellt wären, die Verdrängung von gemeinnützigen Organisationen. Zudem nahm sie negative Folgen für den Bevölkerungsschutz und den Rettungsdienst vor Ort an, bei dem es in der Regel um die Abwehr alltäglicher Gefahren für Gesundheit und Leben in nur begrenztem Ausmaß und gerade nicht um Extremsituationen gehe.
Auch dem Wortlaut der Regelung nach stehe die „Gefahrenabwehr“ eigenständig neben dem „Katastrophenschutz“ und dem „Zivilschutz“ und regele damit einen zusätzlichen Sachverhalt.
Dass ausschließlich der Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung ausdrücklich vom Anwendungsbereich des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ausgenommen sei, würde zudem im Umkehrschluss bedeuten, dass alle übrigen Leistungen wie Rettungsdienstleistungen der Bereichsausnahme unterfielen.
Schließlich sei Rettungsdienstleistungen die explizit in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB genannte CPV-Nummer 75252000-7 zugeordnet.
Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung
Die Vergabekammer Rheinland sprach die Tendenz aus, dass zwar Rettungsdienstleistungen, nicht aber qualifizierte Krankentransportdienstleistungen unter § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB subsumiert werden könnten. Für qualifizierte Krankentransportdienstleistungen ist eine besondere medizinische Ausstattung der Krankentransportwagen und eine Besetzung mit medizinisch geschultem Personal charakteristisch. Im Unterschied zu Rettungsdienstleistungen, bei denen Notfallpatienten in Rettungswagen transportiert werden, besteht bei Krankentransporten keine akute Gefahr. In der Regel macht eine Einschränkung der Gehfähigkeit den Einsatz eines Krankentransportwagens erforderlich, beispielsweise wenn ein Patient von einem Krankenhaus in ein anderes Krankenhaus oder von der Wohnung ins Krankenhaus oder zurück transportiert werden muss.
Die Vergabekammer Rheinland zog hier wiederum Erwägungsgrund 28 der EU-Richtlinie 2014/24/EU heran, in dem es heißt:
„Es sollte daher ausdrücklich festgelegt werden, dass der Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung nicht (Anmerkung: vom Anwendungsbereich des EU-Vergaberechts) ausgenommen sein sollte. (…) Es sollte daher klargestellt werden, dass für unter den CPV-Code 8514 30 00-3 fallende Dienstleistungen, die ausschließlich im Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung bestehen, die Sonderregelung (Anmerkung: für soziale und andere besondere Dienstleistungen) gelten soll. Folglich würden auch gemischte Aufträge für Dienste von Krankenwagen generell unter die Sonderregelung fallen, falls der Wert des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung höher wäre als der Wert anderer Rettungsdienste.“
Qualifizierte Krankentransportdienstleistungen würden zwar nicht ausschließlich, aber primär der reinen Patientenbeförderung und regelmäßig nicht der Durchführung von Rettungsmaßnahmen und der Gefahrenabwehr dienen, was dafür spreche, dass sie gerade nicht der Bereichsausnahme unterfielen, die eng auszulegen sei.
Die Vergabekammer Rheinland musste allerdings nicht abschließend darüber entscheiden, ob auch die qualifizierten Krankentransportdienstleistungen der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB unterfallen. Da der Wert der Rettungsdienstleistungen im entschiedenen Fall denjenigen der qualifizierten Krankentransportdienstleistungen überstieg, unterlagen die qualifizierten Krankentransportdienstleistungen gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 GWB ohnehin der Bereichsausnahme.
Nach § 110 Abs. 1 GWB werden öffentliche Aufträge, die verschiedene Leistungen zum Gegenstand haben, nämlich nach den Vorschriften vergeben, denen der Hauptgegenstand des Auftrags zuzuordnen ist. Der Hauptgegenstand öffentlicher Aufträge, die teilweise aus sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen im Sinne von § 130 GWB sowie teilweise aus klassischen Dienstleistungen bestehen, wird gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 GWB nach dem geschätzten Wert der jeweiligen Dienstleistung bestimmt. Der Wert der qualifizierten Krankentransportdienstleistungen, die jedenfalls soziale Dienstleistungen im Sinne von § 130 GWB darstellen, war hier gering. Daher durften sowohl die Rettungs- als auch die qualifizierten Krankentransportdienstleistungen direkt ohne Durchführung eines Vergabeverfahrens vergeben werden.
Die vergaberechtlichen Erleichterungen, die für soziale Dienstleistungen wie Krankentransportdienstleistungen gelten, bestehen im Übrigen insbesondere darin, dass für sie ein besonderer EU-Schwellenwert in Höhe von 750.000 Euro gilt und dass die Verfahrensart – abgesehen vom Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb – grundsätzlich frei wählbar ist. Zudem gibt es Erleichterungen bei Auftragsänderungen, dem Abschluss von Rahmenvereinbarungen und Fristen. Die sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen ersetzen die bisherigen sogenannten privilegierten Leistungen nach Anhang I Teil B zu VgV a.F., VOL/A und VOF, die mit der Reform des EU-Vergaberechts im April diesen Jahres abgeschafft wurden.
Gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen
Im entschiedenen Fall wurde auch darüber gestritten, ob die Hilfsorganisationen, die den Zuschlag erhalten hatten, gemeinnützige Organisationen sind.
Gemäß § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB komme es nach der Vergabekammer Rheinland darauf an, ob Hilfsorganisationen nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- oder Katastrophenschutzorganisationen anerkannt seien. Die Vergabekammer Rheinland betonte, dass hier das nationale Recht ausschlaggebend sei, da die Bereichsausnahme gerade dazu diene, die nationalen gemeinnützigen Organisationen und Vereinigungen vor einem grenzüberschreitenden Wettbewerb zu schützen. Eine Verletzung der EU-Freiheiten sei im Einklang mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) hierin nicht zu sehen, solange der soziale Zweck für die Bevorzugung der gemeinnützigen Organisationen und Vereinigungen in der Gewährleistung einer flächendeckenden, hochwertigen Krankenhausversorgung mit beherrschbaren Kosten bestehe.
Fazit
In der wohl ersten Entscheidung zu § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB wird nicht an der Rechtmäßigkeit dieser Norm gezweifelt. Die Vorschrift nimmt die Vergabe von Rettungsdienstleistungen an gemeinnützige Organisationen vom EU-Vergaberecht aus. Nicht abschließend entschieden wurde, ob qualifizierte Krankentransportdienstleistungen auch unter diese Bereichsausnahme fallen. Auf reine Krankentransportdienstleistungen ist das EU-Vergaberecht jedenfalls – wenn auch in nur eingeschränkter Form – anwendbar. Gegen die Entscheidung der Vergabekammer Rheinland wurde sofortige Beschwerde eingelegt. Die Entscheidung des OLG Düsseldorf soll Anfang 2017 fallen. Bis dahin ist die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit Vorsicht anzuwenden.