03.06.2024Fachbeitrag

Update Vertriebsrecht Juni 2024

Das Produkthaftungsrecht 2.0 steht vor der Tür

Ziel der Produkthaftung ist es, Menschen einen Ausgleichsanspruch zu gewähren, wenn Ihnen durch die Nutzung eines fehlerhaften Produkts ein Körper-, Gesundheits- oder – unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen – Sachschaden entstanden ist. Die aktuell EU-weit geltende Haftung für fehlerhafte Produkte beruht auf einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 1985. Sie billigte Geschädigten seinerzeit erstmals Ersatzansprüche zu, für die es nicht auf den Beweis des Verschuldens des Schädigers ankam. Dieses nationale Recht wird nun bis 2026 infolge der überarbeiteten Richtlinie an neue technische Entwicklungen und den Siegeszug des Online-Shopping angepasst. Dabei beseitigt der EU-Gesetzgeber einige Schwachstellen, welche die Realisierung von Schadensersatzansprüchen erschwerten.

I. Zusammenfassung der geplanten Neuerungen

Die neue Produkthaftungs-RL enthält folgende zentrale Änderungen:  

Erweiterung des Produktbegriffs

Das neue Recht erweitert den Begriff des Produkts. Umfasst sein sollen nun ausdrücklich auch Software (Ausnahme Quellcode und Open Source Software), KI-Systeme, digitale Bauunterlagen und Rohstoffe wie Gas und Wasser. Dies hat u. a. für Software-Anbieter erhebliche Bedeutung, denn bislang war hinsichtlich Software unklar, ob und unter welchen Voraussetzungen diese – auch losgelöst von der sie verkörpernden Sache – überhaupt ein für das Produkthaftungsrecht relevantes Produkt ist.

Erweiterung des Fehlerbegriffs

Ein Produkt ist nach der neuen Richtlinie fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die eine Person erwarten darf. Bei der Bewertung der Fehlerhaftigkeit eines Produktes sollen sodann alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Exemplarisch führt die Richtlinie nun zum Beispiel auch sicherheitsrelevante Cybersicherheitsanforderungen an. Insbesondere die fehlende Bereitstellung sicherheitsrelevanter Updates für digitale Produkte oder Produkte mit digitalen Elementen kann somit zukünftig einen Produktfehler begründen. Für Hersteller von smarten Verbraucherprodukten dürfte dies allerdings keine neue Anforderung mehr sein. Denn eine derartige Updatepflicht findet sich bereits seit 2022 für Verbraucherverträge über digitale Produkte im deutschen BGB (vgl. § 327e Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB; § 475b Abs. 3 - 5 BGB).

Erweiterung des Schadensbegriffs

Die neue Produkthaftungsrichtlinie erfasst nun neben bestimmten Sachschäden und dem Tod oder der Körperverletzung von Personen ausdrücklich auch die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit sowie ferner Datenverlust, sofern die Daten nicht für berufliche Zwecke verwendet werden. Für immaterielle Schäden ist zudem – je nach nationaler Rechtslage, die Gewährung von Schmerzensgeld vorgesehen.

Erweiterung des Herstellerbegriffs

Schon bisher war der tatsächliche Hersteller eines Produkts nicht der einzig denkbare Adressat möglicher Haftungsrisiken. Stattdessen waren auch solche Unternehmen mögliche Haftungsgegner, die sich auf einem Produkt als Hersteller ausgegeben haben („Quasi-Hersteller“) oder das betreffende Produkt in den Europäischen Wirtschaftsraum verbracht haben („EWR-Importeur“).   

Durch die neue Richtlinie sollen Geschädigte auch Unternehmen in Anspruch nehmen können, die ein vormals in Verkehr gebrachtes oder in Betrieb genommenes Produkt wesentlich verändert haben. Zudem sollen künftig auch Bevollmächtigte des Herstellers für Schäden haftbar gemacht werden können, sofern der Hersteller seine Niederlassung außerhalb der EU hat.

Für Fälle, in denen es an einem in der EU niedergelassenen Einführer oder einem Bevollmächtigten des Herstellers fehlt, werden in Zukunft auch Fulfillment Dienstleister (etwa Lager- oder Versandunternehmen), Händler oder Anbieter einer Online-Plattform (bspw. App-Stores oder Online-Buchungssysteme für Unterkünfte und Reisen) in die erweiterte Haftungskaskade einbezogen.

Offenlegung von Beweismitteln

Die nationalen Gerichte sollen nun auf Antrag des Geschädigten dazu befugt werden, dem Beklagten die Offenlegung relevanter Beweismittel aufzuerlegen. Eine solche Anordnung setzt u. a. voraus, dass der potenziell Schadensersatzberechtigte Tatsachen vorträgt, die die Plausibilität des Schadensersatzanspruchs ausreichend stützen. Sind Geschäftsgeheimnisse betroffen, hat das Gericht auf Antrag des Geheimnisträgers sicherzustellen, dass deren Vertraulichkeit gewahrt wird.

Beweislastumkehr

Nach allgemeinen Regeln muss ein Anspruchsteller die Fehlerhaftigkeit des Produkts, den Schaden sowie den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden beweisen können. Unter der neuen Produkthaftungsrichtlinie greifen nun erstmals Beweiserleichterungen zu Gunsten des Anspruchstellers. So kann u. a. eine widerlegbare Vermutung für das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen Produktfehler und Schaden eingreifen. Diese Vermutung kann helfen, wenn die Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs für den potenziell Schadensersatzberechtigten wegen der technischen oder wissenschaftlichen Komplexitätübermäßig schwierig nachzuweisen sind.

II. Bewertung

Insgesamt ist die beabsichtigte Modernisierung des Produkthaftungsrechts zu begrüßen.

Deutlich wird, dass der EU-Gesetzgeber eine Ausweitung der Produkthaftung anstrebt. So dient vor allem die Erweiterung des Herstellerbegriffs dazu, Geschädigten eine größere Auswahl möglicher Anspruchsgegner innerhalb der EU zu bieten. Um der globalen Reisetätigkeit Rechnung zu tragen, sollen Geschädigte zukünftig auch besser geschützt werden, wenn sie ein fehlerhaftes Produkt selbst aus einem Drittstaat in die EU eingeführt haben.

Die neue Richtlinie folgt dem Ziel, Unternehmen wirtschaftlich zu motivieren, möglichst nur fehlerfreie Produkte auf den EU-Markt gelangen zu lassen. In Verbindung mit der zivilrechtlichen Pflicht zur fortdauernden Produktbeobachtung auch nach dem Inverkehrbringen eines Produkts, soll damit ein möglichst hohes Sicherheitsniveau erreicht werden.

III. Ausblick

Am 12. März 2024 wurde der „final compromise text“ der neuen Produkthaftungsrichtlinie durch das Europäische Parlament verabschiedet. In Kürze ist noch mit der formellen Zustimmung des Rates der Europäischen Union zu rechnen. Die Richtlinie wird sodann durch die Mitgliedstaaten innerhalb von 24 Monaten in nationales Recht umzusetzen sein. Spätestens im Laufe des Jahres 2026 werden daher europaweit neue Regeln zur Haftung für fehlerhafte Produkte gelten. Für Produkte, die bis dahin in Verkehr gebracht bzw. in Dienst gestellt werden, gelten die bisherigen Regelungen fort.

Unternehmen innerhalb und außerhalb der EU sollten zeitnah beginnen, sich auf das Inkrafttreten der geänderten Regelungen vorzubereiten. Dies gilt im Besonderen für diejenigen Unternehmen, deren Haftung durch die Ausweitung des Adressatenkreises erst begründet wird. Allen relevanten Wirtschaftsakteuren ist zu raten, ihre jeweiligen Haftungsrisiken neu zu evaluieren und ggf. mit einer Anpassung des Versicherungsschutzes sowie der vertraglichen Regelung der Verantwortlichkeiten innerhalb der Lieferkette zu reagieren.

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