Update Compliance 10/2021
BVerfG: Die selbständige Einziehung von Taterträgen ist – als Maßnahme „eigener Art“ – auch rückwirkend bei verjährten Ausgangstaten zulässig
Da die Tatbeute dem Täter nicht zur Verfügung stehen soll, wird sie infolge der Verurteilung staatlich eingezogen. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt entschieden, dass eine solche Einziehung auch dann erfolgen darf, wenn die zugrundeliegende Ausgangstat verjährt ist. Diese „echte“ Rückwirkung sei ausnahmsweise zulässig, weil die Einziehung keine Nebenfolge einer Straftat sei, sondern eine Maßnahme „eigener Art“ und „überragende Belange des Gemeinwohls“ dies rechtfertigten. Maßstab sei insoweit nicht das „spezielle“ Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG, sondern das „allgemeine“ Rückwirkungsverbot aus Art. 20 GG.
Die Leitsätze
Mit Beschluss vom 10. Februar 2021 hat das BVerfG entschieden, dass: 1. die Vermögensabschöpfung nach dem Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter ist, und 2. die in Art. 316 h S. 1 EGStGB angeordnete „echte“ Rückwirkung nicht an Art. 103 Abs. 2 GG, sondern an dem allgemeinen Rückwirkungsverbot (Art. 20 GG) zu messen und vorliegend ausnahmsweise zulässig ist.
Diesen Streit hat das Landgericht Berlin im ihm vorliegenden Fall nunmehr im Sinne des Zurechnungsmodells entschieden.
Sachverhalt & bisherige Rechtslage
Im Ausgangssachverhalt hatte das Landgericht Oldenburg im Jahr 2017 über zwei Verfahren wegen Verstoßes gegen das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz zu entscheiden. Es sprach die beiden Angeklagten (den Leiter eines fleischverarbeitenden Betriebs sowie den Geschäftsführer eines Personaldienstleistungsunternehmens) wegen Verfolgungsverjährung (§ 78 StGB) frei. Gegen die beiden nebenbeteiligten Unternehmen ordnete es jedoch die Einziehung des Wertes der Taterträge (knapp 10,7 Mio. Euro) nach §§ 73 Abs. 1, 73b Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 73c S. 1, 76a Abs. 2 S. 1 StGB (i.V.m. Art. 316h S. 1 EGStGB) an.
Nach „alter Rechtslage“, d.h. vor Inkrafttreten der Neuregelungen zum 1. Juli 2017 (durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017), war mit Eintritt der Verfolgungsverjährung nach § 78 StGB a.F. keine Abschöpfung des aus einer strafbaren Vortat Erlangten mehr möglich. Eine Ausnahme bestand nur im Fall des erweiterten Verfalls nach § 73 StGB a.F. Im Gegensatz dazu erlauben dies § 76a Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 78 Abs. 1 S. 2 StGB n.F. nunmehr ausdrücklich. Zudem sieht § 76b Abs. 1 S. 1 StGB n.F. eine eigenständige – also von der Verjährung der Ausgangstat unabhängige – Verjährung von 30 Jahren (!) für die selbständige Einziehung vor.
Der BGH sah in diesen Änderungen eine unzulässige Rückwirkung und legte die Rechtsfrage mit seinem Vorlagebeschluss vom 7. März 2019 dem BVerfG zur Entscheidung vor (Art. 100 Abs. 1 GG).
Rechtliche Erwägungen
Entgegen der Einschätzung des vorlegenden Senats des BGH sieht das BVerfG weder einen Verstoß gegen Art. 103 GG noch gegen Art. 20 GG (bzw. den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes).
Wie der BGH sieht auch das BVerfG (in Übereinstimmung mit zahlreichen Stellungnahmen beigetretener Verfassungsorgane und Institutionen, so u.a. der Bundesregierung, der Generalstaatsanwaltschaft und der Bundesrechtsanwaltskammer) zunächst keinen Verstoß gegen Art. 103 GG.
Über Art. 103 GG soll nach Ansicht des Gerichts der Bürger von staatlichen Eingriffsmaßnahmen geschützt werden, die eine Reaktion auf rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen. Rein „präventive“ Maßnahmen fallen nicht hierunter. Da die Vermögensabschöpfung (wie zuvor der (erweiterte) Verfall) eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem Charakter darstelle, sei sie keine dem Schuldgrundsatz unterfallende Nebenstrafe. Sie verfolge nach Ansicht des BVerfG zudem grundsätzlich zulässige generalpräventive Zwecke (Stichwort: Straftaten dürfen sich nicht lohnen), indem inkriminiertes Vermögen nicht beim Täter bzw. Begünstigten verbleiben soll. Daher lehnen sich die Regelungen der Einziehung auch stark an die Wertungen des Zivilrechts, d.h. die §§ 812 ff. BGB an. Dort gelten daher auch grds. das sog. Bruttoprinzip (d.h. es ist das zurück zu gewähren was erlangt wurde und nicht lediglich das, was noch vorhanden ist) und es gibt kein Vertrauen auf rechtswidrig erlangte Vermögenswerte.
Zu diesem Ergebnis und dieser Wertung kommt der zweite Senat des BVerfG, da für ihn „Strafe“ die „Auferlegung eines Rechtsnachteils wegen einer schuldhaft begangenen rechtswidrigen Tat“ ist. Ein solcher Rechtsnachteil – so der Senat – liegt indes nicht bereits dann vor, wenn mit der Maßnahme „eine Einbuße an Freiheit oder Vermögen verbunden [ist] und damit faktisch die Wirkung eines Übels entfalte[t]. Bei der Beurteilung des Strafcharakters einer Rechtsfolge sind vielmehr weitere, wertende Kriterien heranzuziehen, insbesondere der Rechtsgrund der Anordnung und der vom Gesetzgeber mit ihr verfolgte Zweck“.
Damit ist für das BVerfG allein das in Art. 20 GG und den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verankerte „allgemeine“ Rückwirkungsverbot tangiert. Entgegen der Ansicht des vorlegenden Senats des BGH sowie der Bundesregierung liegt nach Ansicht das BVerfG zunächst sogar eine – an sich grds. unzulässige – „echte“ Rückwirkung vor. Diese ist jedoch ausnahmsweise wegen überragender Allgemeinwohlbelange gerechtfertigt.
Eine sog. „echte“ Rückwirkung liegt nach Ansicht des BVerfG vor, da die selbständige Einziehung nach § 76a StGB über Art. 316h EGStGB mit belastender Wirkung in bereits vor Verkündung abgeschlossene Tatbestände eingreift.
Damit musste sich das Gericht noch der Frage widmen, ob dieser – an sich unzulässige – Eingriff ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Es entspricht gewachsener Rechtsprechung des BVerfG Eingriffe dieser Art anhand verschiedener Fallgruppen zu prüfen. Diese Fallgruppen beruhen auf der Überlegung, dass der Vertrauensgrundsatz zugleich tragende Säule als auch limitierende Grenze des allgemeinen Rückwirkungsverbots ist. Da vorliegend für das Gericht „überragende Belange des Gemeinwohls" betroffen waren, konnte es Art. 316h EGStGB ausnahmsweise für zulässig erklären.
Hierzu führt das Gericht aus: „Der Gesetzgeber verfolgt mit der Anordnung in Art. 316 h S. 1 EGStGB – neben der Entlastung der Rechtsprechung [1. Ziel] von schwierigen Prüfungen des jeweils günstigeren Rechts und dem Vermeiden eines jahrelangen Nebeneinanders von altem und neuem Recht [2. Ziel] – das legitime Ziel, auch für verjährte Taten vermögensordnend zugunsten des Geschädigten einer Straftat einzugreifen [3. Ziel] und dem Täter den Ertrag seiner Taten – auch im Falle fehlender Strafverfolgung – nicht dauerhaft zu belassen [4. Ziel].“
Diese Ziele sind für das BVerfG „überragend wichtig“ und rechtfertigen daher den verfassungsrechtlichen Eingriff.
Praxishinweis:
Die Regelungen der Einziehung in §§ 73 ff. StGB haben seit der Reform im Jahr 2017 erheblich an Bedeutung gewonnen. Wurden diese zuvor teilweise als „zahnlose Tiger“ bezeichnet, so mausern sie sich mittlerweile zu einem sehr scharfen und effektiven Schwert der (allgemeinen) strafrechtlichen Praxis. Nicht selten übersteigen die „eingezogenen“ Beträge die als „Geldbuße/Sanktion“ auferlegten Beträge um ein Vielfaches.
Diese Bedeutung wird in Zukunft wohl noch zunehmen. Denn es ist zunehmend erklärtes gesetzgeberisches Ziel neben den teilweise erheblich ausgeweiteten Bußgeldrahmen zusätzlich noch das strafrechtliche Instrumentarium der Einziehung (inklusive der selbständigen Einziehung) zu nutzen.
So heißt es z.B. in der Begründung zum Regierungsentwurf des VerSanG-E: „Die Verbandssanktionierung dient (anders als bisher die Verbandsgeldbuße nach §§ 30, 17 Absatz 4 OWiG) nicht zugleich der Entziehung des aus der Verbandstat erlangten wirtschaftlichen Vorteils. Daher wird von einem § 30 Absatz 5 OWiG entsprechendem Ausschluss der Einziehung nach §§ 73 ff. StGB wegen derselben Tat abgesehen. Die Einziehung des aus der Verbandstat Erlangten erfolgt vielmehr neben der Verbandssanktion nach §§ 73 ff. StGB“.
Diese Entwicklung könnte für betroffene Unternehmen zukünftig – gerade wegen der Gefahr der Rückwirkung – zur „eigentlichen“ Herausforderung werden.