28.03.2022Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht März 2022

Arbeitnehmer mit Behinderung hat (auch) in der Probezeit Anspruch auf Verwendung an einem anderen, behinderungsgerechten Arbeitsplatz

EuGH, Urteil vom 10.2.2022 – C-485/20

Es wird derzeit an vielen Stellen vertreten, der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe entschieden, dass der Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer bereits ab dem ersten Tag gelte. Das verdient einen präziseren Blick auf Sachverhalt und Entscheidung.

Sachverhalt

Der Kläger wurde im November 2016 bei einem Unternehmen der belgischen Eisenbahn (HR Rail) als Facharbeiter eingestellt. Im Dezember 2017 – innerhalb seiner Probezeit nach belgischem Recht – wurde bei ihm ein Herzproblem diagnostiziert, welches das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Da letzterer sensibel auf elektromagnetische Felder reagiert, die auch am Arbeitsplatz des Klägers verbreitet auftreten, konnte er – nach einer entsprechenden Feststellung einer Behinderung im Juni 2018 – seine ursprünglichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. In der Folgezeit wurde er etwa drei Monate als Lagerist eingesetzt und dann mit der Begründung entlassen, dass er aufgrund seiner Behinderung nicht im ursprünglich vereinbarten Bereich beschäftigt wer-den könne und bei ihm während der Probezeit keine Versetzungspflicht und kein Versetzungsrecht bestünden.

Der belgische Staatsrat rief den EuGH an und bat insbesondere um Auslegung des Begriffs „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ in Artikel 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000. Dieser lautet:

„Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.“

Entscheidung des EuGH

Der EuGH stellte fest, dass unter die erforderlichen Maßnahmen auch die Verpflichtung des Arbeitgebers falle,

  • die Versetzung eines Arbeitnehmers mit Behinderung,
  • der für die Ausübung seiner bisherigen Stelle wegen der Behinderung für unge-eignet erklärt wurde, 
  • auf eine andere geeignete Stelle vorzunehmen,
  • wenn der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet werde. 
  • Das gelte auch für Arbeitnehmer in der Probezeit. 

Auswirkungen auf deutsches Recht

Festzustellen ist zunächst einmal, dass der Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte und Gleichgestellte nach dem SGB IX mitnichten aus einer europäischen Richtlinie oder Verordnung folgt und dementsprechend die dortigen Bestimmungen – § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX, der den Sonderkündigungsschutz für die ersten sechs Beschäftigungsmonate ausschließt – nicht berührt. Insbesondere ist § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX nicht plötzlich europarechtswidrig. 

Die der Entscheidung zugrundeliegende Richtlinie 2000/78/EG ist in Deutschland v.a. durch das AGG umgesetzt. Für Kündigungssachverhalte sind diskriminierende Kündigungen bereits nach dem KSchG ausgeschlossen. Folgerichtig verbleiben noch zwei potentielle „Schutzlücken“, nämlich zum einen für Kleinbetriebe mit nicht mehr als zehn Arbeitnehmern (§ 23 Abs. 1 KSchG) und zum anderen für die Dauer der sechsmonatigen Wartefrist nach § 1 Abs. 1 KSchG (in der Praxis oft fälschlich mit der regelmäßig zeitlich kongruenten „Probezeit“ gleichgesetzt). Der belgische Fall wäre in Deutschland ohnehin unproblematisch gewesen; bereits zum Zeitpunkt der Erkrankung wäre die „deutsche“ Probezeit längst abgelaufen gewesen und sowohl KSchG als auch SGB IX hätten der dann ausgesprochenen Kündigung im Wege gestanden. 

Nimmt man aber einmal an, dass der Sachverhalt bereits in den ersten sechs Beschäftigungsmonaten geschehen wäre, spricht vieles dafür, dass das BAG diese Kündigung dann an den Maßstäben des AGG messen würde. Das BAG hat schon vor Jahren (Urt. v. 23.07.2015 – 6 AZR 457/14) für den anderen Fall der „Schutzlücke“, den Kleinstbetrieb, eine klare Entscheidung getroffen. Dann sind Kündigungen, die gegen gesetzliche Diskriminierungsverbote nach dem AGG verstoßen, gemäß § 134 BGB nichtig. Es spricht nichts dafür, die parallele Schutzlücke „Wartefrist“ hier anders zu behandeln.

Was bedeutet das? Zunächst einmal hat der EuGH nichts zum allgemeinen Kündigungs-schutz gesagt; dazu würde es auch an einer Kompetenz fehlen. Er hat auch nichts zu einem Sonderkündigungsschutz gesagt – namentlich nicht zum SGB IX. 

Der EuGH hat „lediglich“ festgestellt, dass Arbeitgeber auch bei Kündigungen in der Probezeit nicht wegen einer Behinderung kündigen dürfen, ohne zuvor behinderungsgerechte Beschäftigungsoptionen zu prüfen.

Dabei könne der Arbeitgeber jedoch nicht zu unverhältnismäßig belastenden Maßnahmen verpflichtet werden. Ob eine unverhältnismäßige Belastung vorliegt, solle laut EuGH insbesondere durch folgende Kriterien beurteilt werden: 

  • finanzieller Aufwand, 
  • Größe, 
  • finanzielle Ressourcen und 
  • Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens, 
  • öffentliche Mittel oder 
  • andere Unterstützungsmöglichkeiten. 
  • Schlussendlich erfordere die Verwendung der Person mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz das Vorliegen einer freien, geeigneten Stelle.

Praxishinweise

Für die Praxis sind v.a. zwei Lehren zu berücksichtigen:

  • Zum einen kann und sollte das Arbeitsverhältnis in der Regel für die Dauer und Zwecke der Erprobung befristet werden. Dann kann der Arbeitgeber sich ohne ernsthafte Einschränkungen zum Ablauf der Befristung hin frei entscheiden, ob er das Arbeitsverhältnis verlängert oder ob es enden soll; Sonderkündigungsschutz ist dann irrelevant.
  • Zum anderen sollten Arbeitgeber tunlichst, namentlich während der Probezeit, auf das Anführen, Denken und Verwenden von diskriminierenden Kündigungsgründen verzichten. Das gilt nicht nur für das Kriterium der Schwerbehinderung; vielmehr – die EuGH-Entscheidung basiert auf den Gleichbehandlungsrichtlinien – sind hiermit alle potentiellen unzulässigen Diskriminierungstatbestände nach dem AGG gemeint.
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