28.12.2021Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht Dezember 2021

Arbeitsrechtliche Pläne der „Ampelkoalition“

Die Regierungsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben ihren Koalitionsvertrag für die kommende Legislaturperiode vorgelegt, der in insgesamt neun Kapiteln die politischen Vorhaben für die nächsten Jahre umschreibt. Die Ausführungen der neuen Regierungskoalition mit arbeitsrechtlichem Bezug befinden sich schwerpunktmäßig im vierten Kapitel mit dem Titel „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“, in dem sich ein gesonderter Abschnitt mit dem Thema „Arbeit“ befasst. Die aus unserer Sicht besonders relevanten arbeitsrechtlichen Bezüge des Koalitionsvertrages werden im folgenden Überblick zusammenfassend erläutert.

  • Arbeitszeit: Einen Schwerpunkt im neuen Koalitionsvertrag bildet das Thema der Arbeitszeit. Die Koalitionsparteien betonen, am Grundsatz des Acht-Stunden-Tages festhalten zu wollen, dies jedoch bei gleichzeitiger Förderung flexibler Arbeitszeitmodelle. In diesem Zusammenhang soll im kommenden Jahr 2022 eine befristete Regelung mit Evaluationsklausel geschaffen werden, die es – allerdings nur im Rahmen von Tarifverträgen – ermöglichen soll, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit unter bestimmten Voraussetzungen flexibler gestalten. Für Höchstarbeitszeiten soll es nicht näher beschriebene „Experimentierräume“ für abweichende Regelungen in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen geben. Des Weiteren beabsichtigt die Regierungskoalition, den im Arbeitszeitrecht geltenden Anpassungsbedarf zu prüfen, wobei ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) Bezug genommen wird. Gemeint sein dürfte damit insbesondere die vieldiskutierte Entscheidung des EuGH zur Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeit vom 14. Mai 2019 in der Rechtssache „Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO)/Deutsche Bank SAE“ (Aktenzeichen C-55/18). Dabei wird im Koalitionsvertrag aber betont, dass flexible Arbeitszeitmodelle – beispielhaft wird auf die Vertrauensarbeitszeit verwiesen – auch weiterhin möglich bleiben sollen.
  • Befristungen: Eine besonders praxisrelevante Änderung plant die Koalition im Befristungsrecht. So sollen Sachgrundbefristungen nach § 14 Abs. 1 TzBfG eingeschränkt werden, indem diese zukünftig auf eine Höchstdauer von sechs Jahren bei einem Arbeitgeber begrenzt werden. Allerdings soll „in eng begrenzten Ausnahmen“ ein Überschreiten dieser Höchstdauer möglich sein. Wie diese Ausnahmen ausgestaltet werden, bleibt abzuwarten, denn nähere Ausführungen enthält der Koalitionsvertrag nicht. In der Praxis wird die Einführung dieser Höchstdauer zu einigen Schwierigkeiten führen. Insbesondere würde bei strenger Anwendung der sechsjährigen Höchstdauer eine Befristung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze künftig regelmäßig nicht mehr rechtswirksam sein. Zudem soll die Haushaltsbefristung im öffentlichen Dienst (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 TzBfG) vollständig abgeschafft werden. Die sachgrundlose Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG wird dagegen – entgegen früherer Überlegungen – bis auf Weiteres nicht weiter eingeschränkt. Lediglich beim Bund als Arbeitgeber soll sie schrittweise reduziert werden.
  • Mobiles Arbeiten: Ein weiterer Schwerpunkt liegt für die „Ampelkoalition“ in der mobilen Arbeit, die künftig – so jedenfalls die Ankündigung im Koalitionsvertrag – EU-weit unproblematisch möglich sein soll. Die Regierungsparteien betonen, dass das Home-Office rechtlich von der Telearbeit und dem Geltungsbereich der Arbeitsstättenverordnung abgegrenzt werden soll. Besondere Beachtung verdient die Aussage, dass Arbeitgeber das Begehren eines Arbeitnehmers nach mobiler Arbeit nur dann ablehnen können, wenn betriebliche Belange entgegenstehen. Sachfremde oder willkürliche Ablehnungen sollen nach dem Koalitionsvertrag ausgeschlossen werden. Wie gewichtig die entgegenstehenden betrieblichen Belange aber letztlich sein müssen, um eine Ablehnung zu begründen, bleibt offen. Legt man die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu ähnlich gelagerten Vorschriften – vor allem § 8 Abs. 4 und § 9a Abs. 2 TzBfG – zugrunde, dürften Arbeitgeber vor relativ hohen Hürden stehen, wenn Sie einen Home-Office-Wunsch ablehnen wollen. Ein grundsätzliches „Recht auf Home-Office“ nimmt somit Gestalt an. Zudem sollen „Arbeitsschutz, gute Arbeitsbedingungen und das Vorhandensein eines betrieblichen Arbeitsplatzes“ Voraussetzungen mobiler Arbeit sein. Arbeitnehmern „in geeigneten Tätigkeiten“ soll ferner ein Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Home-Office gegen den Arbeitgeber zustehen. Einschränkend wird allerdings angeführt, dass Raum für abweichende tarifvertragliche und betriebliche Regelungen bleiben muss.
  • Anhebung des Mindestlohns und Weiterentwicklung des Entgelttransparenzgesetzes: Hervorzuheben ist die beabsichtigte Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zunächst EUR 12 pro Stunde. Danach soll die unabhängige Mindestlohnkommission über etwaige weitere Erhöhungen beraten. Zugleich unterstützt die Regierungskoalition das Vorhaben einer EU-weit geltenden Richtlinie über angemessene armutsfeste Mindestlöhne zur Stärkung des Tarifsystems. Ferner soll die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern geschlossen werden. Zu diesem Zweck will die Regierungskoalition das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickeln und dessen Durchsetzung stärken, indem individuelle Arbeitnehmerrechte durch Verbände im Wege der sogenannten Prozessstandschaft geltend gemacht werden können. 
  • Brückenteilzeit: Die Brückenteilzeit nach § 9a TzBfG soll künftig von mehr Beschäftigten in Anspruch genommen werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die „Überforderungsklausel“ des § 9a Abs. 2 S. 2 TzBfG überarbeitet werden. Diese sieht bislang vor, dass Arbeitgeber mit nicht mehr als 200 Arbeitnehmern Teilzeitbegehren ablehnen können, wenn bereits eine bestimmte Anzahl anderer Arbeitnehmer – abgestuft nach der Beschäftigtenzahl im Unternehmen – Brückenteilzeit in Anspruch genommen hat. Angesichts der Zielsetzung, die Brückenteilzeit auszuweiten, ist zu erwarten, dass eine Ablehnung von Teilzeitbegehren nach § 9a Abs. 2 TzBfG künftig erschwert wird.
  • Weiterbildung und Qualifizierung: Im Zusammenhang mit der Weiterbildung und Qualifizierung plant die Koalition die Einführung einer Bildungs(teil)zeit „nach österreichischem Vorbild“. In Österreich kann ein Arbeitnehmer seine wöchentliche Arbeitszeit unter gewissen weiteren Voraussetzungen für eine Dauer von maximal 24 Monaten um 25 Prozent bis 50 Prozent reduzieren, um sich aus- bzw. fortzubilden. Eine ähnliche Regelung soll es nun offenbar auch in Deutschland geben. Ferner soll die Bundesagentur für Arbeit Unternehmen im Strukturwandel mit einem ans Kurzarbeitergeld angelehnten „Qualifizierungsgeld“ ermöglichen, ihre Arbeitnehmer durch Qualifizierung zu halten. Voraussetzung hierfür soll der Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung sein. Außerdem wollen die Regierungsparteien Anreize für Transformationstarifverträge setzen, das Transfer-Kurzarbeitergeld ausweiten und die Instrumente des SGB III in Transfergesellschaften weiterentwickeln.
  • Mini- und Midijobs: Wichtige Anpassungen gibt es in der geringfügigen Beschäftigung und im sogenannten Übergangsbereich. So soll die Midi-Job-Grenze auf EUR 1.600 pro Monat erhöht werden, während die Minijob-Grenze künftig bei einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu Mindestlohnbedingungen (also zunächst EUR 520 pro Monat) verläuft. Zugleich soll es stärkere Kontrollen der Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts bei Mini-Jobs geben. 
  • Drittpersonaleinsatz: Die „Ampelkoalition“ widmet sich auch dem Thema des Drittpersonaleinsatzes. Im Koalitionsvertrag werden Werkverträge und die Arbeitsnehmerüberlassung als „notwendige Instrumente“ anerkannt. Zugleich wird betont, dass eine effektive Rechtsdurchsetzung systematische Verstöße gegen Arbeitsrecht und Arbeitsschutz verhindern soll. Des Weiteren will die Koalition prüfen, ob Änderungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vorzunehmen sind. Der Kontext dieser Formulierung bleibt auf den ersten Blick unklar, es ist aber zu vermuten, dass sich der Koalitionsvertrag auf derzeit beim EuGH anhängige Verfahren bezieht – und insbesondere die Rechtsfrage betrifft, inwieweit durch Tarifvertrag vom Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen Stammarbeitnehmern und Leihkräften abgewichen werden darf.
  • Plattformarbeit: Im Fokus der Regierungskoalition steht ferner die sogenannte Plattformarbeit, beispielsweise in Gestalt des „Crowdworking.“ Das „Crowdworking“ ist mittlerweile im deutschen Arbeitsrecht angekommen, und zwar spätestens, seit das Bundesarbeitsgericht in einem vielbeachteten Urteil vom 1. Dezember 2020 entschieden hat, dass die Durchführung von Aufträgen durch den Nutzer einer Online-Plattform zum Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses führen kann (Aktenzeichen 9 AZR 102/20). Im Koalitionsvertrag wird die Plattformarbeit als Bereicherung für die Arbeitswelt bezeichnet, konkrete Vorhaben lassen sich dem Vertragstext indes nicht entnehmen. Beabsichtigt sind unter anderem die Überprüfung bestehenden Rechts und ein Dialog mit Plattformanbietern, Plattformarbeiter, Selbstständigen und Sozialpartnern. 
  • Tarifrecht: Im Rahmen des Tarifrechts will die „Ampelkoalition“ die Tarifautonomie stärken. Dazu soll die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrags der jeweiligen Branche geknüpft werden. Ferner ist beabsichtigt, Betriebsausgliederungen „bei Identität des bisherigen Eigentümers zum Zwecke der Tarifflucht“ zu verhindern, indem der geltende Tarifvertrag fortgilt.
  • Betriebliche Mitbestimmung: Einen weiteren Schwerpunkt legt der Koalitionsvertrag im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung. Zunächst wird betont, dass Betriebsräte selbstbestimmt über ihre analoge oder digitale Arbeitsweise entscheiden sollen. Zudem soll es ein Pilotprojekt für – in der Praxis schon häufig geforderte – „Online-Betriebsratswahlen“ geben. Die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften sollen zukünftig ein Recht auf „digitalen Zugang“ zum Betrieb erhalten. Straftaten gegen die demokratische Mitbestimmung – gemeint ist hiermit wohl insbesondere die Strafnorm des § 119 BetrVG – sollen künftig Offizialdelikte sein. Dies bedeutet, dass sie von den Strafverfolgungsbehörden „von Amts wegen“ und nicht lediglich nach Antrag verfolgt werden können.
  • Unternehmensmitbestimmung: Die Regierungskoalition betont, dass eine missbräuchliche Umgehung des geltenden Mitbestimmungsrechts verhindert werden soll. Zugleich will sich die Bundesregierung für eine Weiterentwicklung der Unternehmensmitbestimmung engagieren. Konkret benennt der Koalitionsvertrag den Fall, dass die Unternehmensmitbestimmung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften infolge des „Einfriereffekts“ vermieden wird. Diese Möglichkeit soll es künftig nicht mehr geben. Die Koalition will zudem die Konzernzurechnung aus dem Mitbestimmungsgesetz auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt. Dies dürfte in der Praxis dazu führen, dass künftig mehr Unternehmen der Mitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz unterfallen.
  • Arbeits- und Gesundheitsschutz: Der Arbeits- und Gesundheitsschutz wird im Koalitionsvertrag mit einem kurzen Absatz gewürdigt. Hierin wird angekündigt, dass die Koalition sich intensiv der psychischen Gesundheit widmen und das betriebliche Eingliederungsmanagement stärken will. An anderer Stelle wird das Ziel genannt, das betriebliche Eingliederungsmanagement nach einheitlichen Qualitätsstandards flächendeckend verbindlich zu gestalten.
  • Betriebliche Altersversorgung: Die betriebliche Altersversorgung soll nach dem Koalitionsvertrag gestärkt werden, unter anderem durch die Erlaubnis von Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen. Außerdem soll das mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz bereits angestoßene Sozialpartnermodell in der neuen Legislaturperiode umgesetzt werden.
  • Beschäftigtendatenschutz: Auch das Thema des Datenschutzes wird – wenn auch wenig konkret – aufgegriffen. So will die Regierungskoalition Regelungen zum Beschäftigtendatenschutz schaffen, um Rechtsklarheit herzustellen und Persönlichkeitsrechte effektiv zu schützen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die EU-Whistleblower-Richtlinie nach dem Koalitionsvertrag „rechtssicher und praktikabel“ umgesetzt werden soll. Eine entsprechende Umsetzung ist mittlerweile ohnehin dringend geboten, weil die zweijährige Umsetzungsfrist noch in diesem Jahr abläuft.
  • Kirchliches Arbeitsrecht: Schließlich will die Regierungskoalition prüfen, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht – ausgenommen bleiben „verkündungsnahe Tätigkeiten“ – dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Die Reichweite dieses Vorhabens bleibt allerdings unklar.

Insgesamt, so zeigt die vorstehende Zusammenfassung, beinhaltet der Koalitionsvertrag eine Vielzahl von Vorhaben mit arbeitsrechtlichem Bezug. Leider bleibt die Darstellung der einzelnen Themen durch die „Ampelkoalition“ an vielen Stellen unkonkret, sodass sich die tatsächlichen Auswirkungen des Regierungswechsels für Unternehmen und ihre Belegschaften erst im Laufe der neuen Legislaturperiode zeigen werden. Die weitere Entwicklung bleibt mit Spannung zu beobachten.

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