27.09.2023Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht September 2023

BAG: Kein Verwertungsverbot bei offener Videoüberwachung trotz Missachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben

BAG, Urteil vom 29.06.2023 – 2 AZR 296/22

In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Beweisverwertungsverbot einer öffentlichen Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten eines Arbeitnehmers darlegen soll. Das gilt nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts („BAG“) auch für die Fälle, in denen die Überwachungsmaßnahmen des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts stehen.

Sachverhalt

Der Kläger war zuletzt als Teamleiter in der Gießerei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt. Die Beklagte wirft dem Kläger vor, am 2. Juni 2018 eine sogenannte „Mehrarbeitsschicht“ in der Absicht nicht geleistet zu haben, sich diese trotzdem vergüten zu lassen. So habe der Kläger zwar vor Schichtbeginn das Betriebsgelände der Beklagten betreten, dieses aber auch vor Schichtbeginn wieder verlassen. Dies ergab sich zum einen aus einer Auswertung der Kartenlesegeräte am Eingangstor. Die Auswertung der Daten der Kartenlesegeräte am Eingangstor war allerdings qua Betriebsvereinbarung (die „Betriebsvereinbarung“) zum Zweck der Beweisführung vor Gericht gegen Mitarbeiter verboten.

Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ergab nach dem Vortrag der Beklagten zum anderen, dass der Kläger das Werksgelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen habe. Der Kläger machte geltend, dass er am 2. Juni 2018 gearbeitet habe und die Auswertung der Videoaufzeichnung einem Sachvortrags- und Bewertungsverbots unterliege. Außerdem verbiete die Betriebsvereinbarung die Auswertung der Zugangsdaten am Eingangstor.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien daraufhin nach vorheriger Anhörung des Klägers und Beteiligung des Betriebsrats im Oktober 2019 außerordentlich und fristlos und vorsorglich ordentlich und fristgemäß. Mit seiner Klage wendet sich der Kläger gegen die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen.

Entscheidung

Die Vorinstanzen gaben der Kündigungsschutzklage des Klägers statt und nahmen ein Beweisverwertungsverbot in Bezug auf die Videoüberwachungsmaßnahmen am Werkstor an. Das BAG sieht das nun anders und verweist den Fall zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht Niedersachsen („LAG“) zurück.

Nach Auffassung des BAG habe das LAG den Vortrag der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes vor Beginn der Mehrarbeitsschicht zu berücksichtigen.

Ein Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot käme – gerade auch im Geltungsbereich der DSGVO – nur in Betracht, wenn die Nichtberücksichtigung von Vorbringen oder eines Beweismittels wegen einer durch Unionsrecht oder Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) geschützten Rechtspositionen des Arbeitnehmers zwingend geboten sei.

Dies sei bei einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung, die von einer Überwachungskamera erfasst werde, meistens nicht der Fall.

Ein auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gestütztes Verwertungsverbot scheide regelmäßig in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung aus, die vorsätzlich begangene Pflichtverletzungen zulasten des Arbeitgebers zeigen, ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der gesamten Überwachungsmaßnahme ankäme. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung – wie hier – offen erfolge und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede stehe. In einem solchen Fall sei es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten habe.

Zudem stellt das BAG klar, dass – anders als das LAG zunächst angenommen hatte – Daten, die mithilfe der elektronischen Kartenlesegeräte am Werkstor gewonnen wurden, nicht wegen einer Betriebsvereinbarung prozessual unberücksichtigt bleiben müssen, sondern Gerichte diese Daten sehr wohl verwerten dürfen. Den Betriebsparteien fehle insoweit die Regelungsmacht, Verwertungsverbote zu begründen, die über die Regelungen der ZPO hinausgehen. Die Betriebsparteien könnten nicht in das gerichtliche Verfahren eingreifen. Dies obliege allein dem Gesetzgeber.

Praxishinweis

Die Entscheidung ist zu befürworten. Das BAG entwickelt seine Rechtsprechung zur prozessualen Verwertbarkeit von offenen Videoaufzeichnungen weiter, wonach ein prozessuales Verwertungsverbot erst bei schwerwiegenden Grundrechtsverletzung anzunehmen ist. Denn in jedem Fall unzulässig ist eine nur präventive, lückenlose und dauerhafte Videoüberwachung der Arbeitnehmer (vgl. BAG Urt. v. 28.3.2019 - 8 AZR 421/17). Insofern ist das Urteil auch wenig überraschend.

Das BAG bekräftigt mit seiner Entscheidung erneut, dass Datenschutz kein Täterschutz ist. Entscheidend dabei ist, dass es sich um eine offene, also deutlich erkennbare und – wie im zu entscheidenden Fall des BAG – gekennzeichnete Videoüberwachung handelt. Eine Kennzeichnung ist aber nicht zwingend erforderlich, solange die Videoüberwachung offensichtlich und nicht zu übersehen ist.

Die Entscheidung des BAG sollte allerdings nicht dazu ermuntern, Datenschutz-unwirksame Videoüberwachungen zu implementieren oder zu unterhalten. Maßstab des betrieblichen Handelns sollte die Datenschutz-konforme Videoüberwachung sein. Nur falls die Videoüberwachung nicht alle Anforderungen des Datenschutzes erfüllt und es darauf ankäme, entsprechende Aufzeichnungen zu verwerten, besteht die Möglichkeit des Rückgriffs auf die günstige Rechtsprechung des BAG.

Ferner hat das BAG auch zur – soweit ersichtlich – bislang offenen Frage Stellung bezogen, ob die Betriebsparteien wirksam Verwertungsverbote vereinbaren können, die über die gesetzlichen Regelungen hinausgehen. Dem erteilt das BAG eine Absage. Die Regelungsmacht dafür liege alleine beim Gesetzgeber. Da viele Betriebsvereinbarungen ähnliche Regelungen enthalten, sollte hier eine Überprüfung und ggf. Anpassung der Regelungen erfolgen. Jedenfalls aber sollten sich die Betriebsparteien darüber im Klaren sein, dass die Regelungen im Ernstfall wenig wert sind.

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