Update Arbeitsrecht September 2024
Rückforderung von arbeitgebergewährter Entgeltfortzahlung
LAG Berlin-Brandenburg 05.07.2024 - 12 Sa 1266/23
Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) wird in Deutschland jährlich millionenfach ausgestellt, wobei sich die Zahlen in den vergangenen Jahren stark erhöht haben. Dies hängt mit dem höheren Krankenstand von Arbeitnehmern in Deutschland zusammen: Im Jahr 2023 waren Arbeitnehmer in Deutschland durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet. (Quelle: Statistisches Bundesamt).
Dabei hat die AU nicht nur eine materiell-rechtliche Wirkung, sondern wird vor allem im Prozessrecht relevant. Die Rechtsprechung schreibt der AU die Beweiserleichterung des Anscheinsbeweises zu – ein Institut, über dessen Angriffsmöglichkeiten häufig Unklarheit besteht und das häufig Gegenstand arbeitsgerichtlicher Urteile war.
Sachverhalt
In dem vom Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg am 5. Juli 2024 (12 Sa 1266/23) zu entscheidenden Fall stritten die Parteien unter anderem über die Rückzahlung gewährter Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kläger war bei der Beklagten als Produktionsleiter beschäftigt. Nachdem diese das Arbeitsverhältnis am 26. Oktober 2022 zunächst mündlich kündigte, meldete sich der Kläger am Folgetag arbeitsunfähig krank. Mit Schreiben vom 28. Oktober 2022 kündigte ihm die Beklagte dann ordentlich zum 30. November 2022. Der Kläger war aufgrund ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bis zum 30. November 2022 lückenlos arbeitsunfähig erkrankt. Während der Arbeitsunfähigkeit nahm er als Schiedsrichter an einem Handballspiel teil.
Gegen die vom Kläger vor dem Arbeitsgericht Cottbus (1 Ca 1125/22) erhobene Kündigungsschutzklage erhob die Beklagte Widerklage und beantragte, den Kläger zu verurteilen, die geleistete Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zurückzuzahlen. Das Arbeitsgericht wies die Widerklage mit Urteil vom 16. November 2023 ab. Ihr Klagebegehren verfolgte die Beklagte mit der Berufung weiter.
Entscheidung des Berlin-Brandenburg vom 5. Juli 2024
Das LAG erkannte die Forderung der Beklagten an. Sie könne die Rückzahlung der geleisteten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus ungerechtfertigter Bereicherung verlangen. Für das Fehlen eines Rechtsgrunds sei grundsätzlich die Beklagte darlegungs- und beweisbelastet. Auch der Arbeitgeber, der bereits Entgeltfortzahlung leistete, habe darzulegen und ggf. zu beweisen, dass eine Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegen und der Arbeitnehmer die Entgeltfortzahlung ohne Rechtsgrund erhalten habe. Da der Arbeitgeber meist keine genaue Kenntnis von den Umständen der Erkrankung habe, konkretisiere sich seine Darlegungslast derart, dass er eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch von ihm darzulegende und ggf. zu beweisende Umstände in ihrem Beweiswert erschüttern müsse. Konkreten Vortrag des Arbeitnehmers zu Erkrankungsdetails müsse der Arbeitgeber entkräften. Erkläre sich der Arbeitnehmer nicht zu den gesundheitlichen Umständen und Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit, gelte die Behauptung des Arbeitgebers, eine Arbeitsunfähigkeit habe nicht bestanden, sowie die Rechtsgrundlosigkeit der Entgeltfortzahlung als zugestanden. Vorliegend sei der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert. Als Indiz dafür sei einerseits die passgenau zur Kündigungsfrist erfolgte Krankschreibung zu werten. Zu berücksichtigen sei auch, dass dem Kläger nach der Folgebescheinigung vom 9. November 2022 eine Arbeitsunfähigkeit für die kommenden 20 Tage attestiert wurde, was gegen die Maximalvorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie verstoße. Dass der Kläger darüber hinaus wettkampfmäßig an sportlichen Aktivitäten teilnahm, stütze diese Zweifel. Um die Erschütterung des Beweiswertes zu widerlegen, hätte der Kläger Umstände vortragen müssen, aufgrund derer er gem. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert war. Da kein entsprechender Vortrag des Klägers erfolgt sei, hätten die Behauptungen der Beklagten gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden zu gelten.
Praxishinweis
Der Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg ist zuzustimmen und sie liegt auf einer Linie mit der Rechtsprechung des BAG zur Erschütterung des Beweiswerts ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Mit Urteil vom 28. Juni 2023 (5 AZR 335/22) stellte das BAG erst kürzlich klar, dass auch der Verstoß des die Bescheinigung ausstellenden Arztes gegen die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie geeignet ist, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Tritt dieser Fall ein, ist der Arbeitnehmer gehalten, konkret zu den Umständen der Erkrankung und der daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit vorzutragen. Es spricht für sich, dass der Kläger dem nicht nachgekommen ist. Resümierend betrachtet wird allerdings bei Betrachtung des vorliegenden sowie weiterer, in der kürzeren Vergangenheit ergangener Urteile zur Erschütterung des Beweiswerts einer AU deutlich, dass die aktuellen Entscheidungen – so begrüßenswert sie auch sein mögen – keine Änderung der allgemeinen Rechtsprechungslinie des BAG darstellen. Vielmehr ist im jeweiligen fallbezogenen Kontext eine sorgfältige Abwägung des Beweiswerts ärztlicher Bescheinigungen vorzunehmen. Im Streitfalle bleibt es damit weiterhin Aufgabe des Arbeitgebers, bei begründeten Zweifeln am Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit substanziiert die zur Erschütterung führenden Umstände aufzuzeigen.