Update Compliance 19/2017
Bundesverfassungsgericht verbietet im Dieselskandal vorläufig die Auswertung von Anwaltsunterlagen
Das Bundesverfassungsgericht hat der Staatsanwaltschaft München II im sog. "Dieselskandal" die Auswertung beschlagnahmter Anwaltsunterlagen vorerst untersagt. Die Staatsanwaltschaft hatte die Büroräume der vom betroffenen Unternehmen beauftragten Rechtsanwaltskanzlei durchsucht. Die Kanzlei ist mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Behörden betraut.
Die Kanzlei war mit ihren Beschwerden gegen die Durchsuchung ihrer Büroräume und der Beschlagnahme von Unterlagen erfolglos geblieben und legte Verfassungsbeschwerde ein. Gleichzeitig stellte sie den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, dem das Bundesverfassungsgericht nunmehr stattgab (Az. 2 BvR 1287/17, 2 BvR 1582/17, 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1562/17).
Das Bundesverfassungsgericht kann eine solche einstweilige Anordnung treffen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 BVerfGG). Bei offenem Ausgang des Beschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe.
Im Rahmen dieser Folgenabwägung kam der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zu dem Ergebnis, dass, wenn sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung und Beschlagnahme als begründet erwiese, die Nachteile einer Auswertung der Anwaltsunterlagen gewichtiger sind als die Nachteile eines Abwartens mit den weiteren strafprozessualen Untersuchungen. Wörtlich führt das Gericht aus:
"Dieser Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die im Zuge der internen Ermittlungen erstellten und gesammelten Unterlagen und Daten könnte nicht nur zu einer - möglicherweise irreparablen - Beeinträchtigung des rechtlich geschützten Vertrauensverhältnisses zwischen der X-AG und der Beschwerdeführerin führen. Auch andere Mandanten, die mit dem Ermittlungsverfahren in keinem Zusammenhang stehen, könnten im Falle einer Auswertung ... ihre Geschäftsgeheimnisse und persönlichen Daten bei der Beschwerdeführerin in Unsicherheit wähnen und deshalb ihre Aufträge zurückziehen ... . Schließlich könnten durch die Auswertung persönliche Daten unbeteiligter Dritter, insbesondere von Mitarbeitern ..., die ihre Daten in der Sphäre der Beschwerdeführerin sicher glaubten, zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen."
Erginge hingegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber als unbegründet, würde damit lediglich eine zeitlich begrenzte Verzögerung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen für eine begrenzte Zeitspanne einhergehen. Das war letztlich ausschlaggebend für die Anordnung, die Auswertung der beschlagnahmten Unterlagen einstweilen zu verbieten.
Praxishinweis: Mit der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts ist über die eigentliche Verfassungsbeschwerde nicht (vor-) entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich die beschriebene Folgenabwägung durchgeführt, ohne sich bereits inhaltlich festlegen zu müssen. Immerhin ist Voraussetzung für die Anordnung, dass das Gericht das Verfahren für offen hält.
Die rechtlichen Grenzen der Durchsuchung von Anwaltskanzleien und der Beschlagnahme von Unterlagen aus internen Ermittlungen sind Gegenstand einer intensiven Auseinandersetzung in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Das Landgericht Braunschweig hat die Unternehmensrechte im Jahr 2015 gestärkt (Beschl. v. 21.7.2015 - 6 Qs 116/15; vgl. Update Compliance Nr. 12/2015), zurückhaltender nehmen sich andere Entscheidungen aus (LG Bochum v. 16.3.16 - 6 Qs 1/16 zur Parallelproblematik bei anwaltlichen Ombudspersonen, LG Mannheim, Beschl. v. 3.7.2012 - 24 Qs 1/12 und 2/12, LG Hamburg, Beschl. v. 15.10.2010 - 608 Qs 18/10 noch zur alten Rechtslage).
Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommt daher eine Richtung weisende Bedeutung zu. Von der Entscheidung wird auch die gleich gelagerte Problematik der Durchsuchung und Beschlagnahme bei Ombudspersonen (sog. externen whistle blower hotlines) berührt sein.