Update Arbeitsrecht Oktober 2021
Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
BAG 08.09.2021 – 5 AZR 149/21
Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist der gesetzlich vorgesehene und somit wichtigste Beweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit. Nach § 5 Abs. 1 EFZG ist der Arbeitnehmer bei länger als drei Tage andauernder Arbeitsunfähigkeit – oder nach Verlangen des Arbeitgebers auch schon früher – verpflichtet, eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer vorzulegen.
Die arbeitsgerichtliche Judikatur spricht der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich einen hohen Beweiswert zu. Dies bedeutet, dass ein Arbeitsgericht die vom Arbeitnehmer behauptete Arbeitsunfähigkeit infolge Erkrankung regelmäßig als bewiesen ansieht, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine entsprechende ärztliche Bescheinigung vorlegt. Will der Arbeitgeber eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht gelten lassen, muss er im Rechtsstreit konkrete Umstände darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben, wobei die Zweifel sowohl aus der Bescheinigung selbst als auch auf den Umständen ihrer Ausstellung resultieren können. Gelingt dem Arbeitgeber eine „Erschütterung“ des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, muss der Arbeitnehmer seinerseits substantiiert darlegen und beweisen, dass die Arbeitsunfähigkeit tatsächlich vorlag.
Die Frage, in welchen Fällen der Arbeitgeber nach diesen Grundsätzen ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit hegen und damit den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern kann, war bereits Gegenstand zahlloser Gerichtsentscheidungen. Der schwerpunktmäßig für Rechtsfragen des Arbeitsentgelts und der Entgeltfortzahlung zuständige fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte sich nun abermals mit dieser Thematik zu beschäftigen. Die Besonderheit des zugrundeliegenden Sachverhalts lag vor allem in dem „passgenauen“ Zusammentreffen von Eigenkündigung der Arbeitnehmerin und vorgelegter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in zeitlicher Hinsicht.
SACHVERHALT
Ausgangspunkt des Rechtsstreits war die auf Entgeltfortzahlung gerichtete Klage einer Arbeitnehmerin gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin, bei der die klagende Arbeitnehmerin von Ende August 2018 bis zum 22. Februar 2019 beschäftigt war. Am 8. Februar 2019 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 22. Februar 2019 und legte der beklagten Arbeitgeberin zugleich eine auf den 8. Februar 2019 datierte und als Erstbescheinigung ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Sodann blieb die Klägerin der Arbeit – offenbar bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses – fern.
Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG für den Zeitraum der Krankschreibung und begründete dies damit, dass der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei, weil diese exakt die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses zwischen Ausspruch der Eigenkündigung am 8. Februar 2019 und der Beendigung am 22. Februar 2019 abdecke. Die Klägerin machte dagegen geltend, sie sei ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen und verlangte Entgeltfortzahlung für den streitigen Zeitraum vom 8. Februar 2019 bis zum 22. Februar 2019. Nachdem die Vorinstanzen der Klägerin Recht gegeben hatten, war die hiergegen gerichtete Revision der Arbeitgeberin vor dem Bundesarbeitsgericht erfolgreich.
ENTSCHEIDUNG
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist aktuell noch nicht im Volltext verfügbar, sondern liegt für die Öffentlichkeit bislang nur in Gestalt einer Pressemitteilung vor. Dieser lässt sich allerdings entnehmen, dass das Bundesarbeitsgericht den Beweiswert der von der Klägerin vorgelegten Beweiswert als erschüttert ansah, da die Koinzidenz zwischen der Kündigung vom 8. Februar 2019 mit Wirkung zum 22. Februar 2019 einerseits und der ebenfalls am 8. Februar 2019 bis zum 22. Februar 2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit andererseits nach Auffassung des zuständigen fünften Senats ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründete.
Da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgrund dieser Umstände nach Ansicht des Senats nicht geeignet war, die Arbeitsunfähigkeit ohne Weiteres zu belegen, hätte die Klägerin hinsichtlich der von ihr behaupteten Arbeitsunfähigkeit weiter vortragen müssen. Der Beweis, dass eine Arbeitsunfähigkeit tatsächlich bestand, kann in diesen Fällen nach Auffassung des fünften Senats insbesondere durch Vernehmung des behandelnden Arztes nach Befreiung von der Schweigepflicht durch den Arbeitnehmer erfolgen. Da die Klägerin ihrer Darlegungslast zum Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit – auch nach Hinweis des Senats – nicht hinreichend konkret nachgekommen sei, wurde die Klage abgewiesen.
PRAXISHINWEISE
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts verdeutlicht, dass der Arbeitgeber der unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung behaupteten Arbeitsunfähigkeit und damit korrespondierenden Ansprüchen auf Entgeltfortzahlung durchaus entgegentreten kann. Die Hürden für eine Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sind zwar hoch. Arbeitgeber können sich allerdings bestärkt darin sehen, vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen jedenfalls dann nicht ohne Weiteres zu akzeptieren, wenn sich eine Vortäuschung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Umstände des Einzelfalls aufdrängt. Neben der, im vorgestellten Sachverhalt maßgeblichen, zeitlichen Nähe zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können begründete Zweifel unter anderem dann bestehen, wenn der Arbeitnehmer die Krankschreibung zuvor bereits angekündigt hatte.