16.02.2021Fachbeitrag

Update Compliance 4/2021

EuGH: Schweigerecht gilt auch in Verwaltungssanktionsverfahren, rechtfertigt aber keine Verweigerung jeglicher Zusammenarbeit

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 2. Februar 2021 entschieden, dass einer natürlichen Person ein Schweigerecht in einem gegen sie gerichteten Verwaltungssanktionsverfahren wegen Insidergeschäften zusteht. Eine aufgrund einer Weigerung zur Aussage verhängte Sanktion ist danach unzulässig. Jedoch gilt das nicht für jede Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Behörden.

Sachverhalt

Die italienische Börsenaufsichtsbehörde Consob verhängte ein Bußgeld in Höhe von EUR 300.000 wegen Insidergeschäften gegen den Betroffenen. Dieser hatte die aufgrund der Ermittlungen gegen ihn angesetzte Anhörung zunächst mehrmals verschoben und weigerte sich schließlich, als er zu der Anhörung erschien, die Fragen der Consob zu beantworten. Dafür verhängte die Consob ein weiteres Bußgeld in Höhe von EUR 50.000.

Der EuGH hatte nun im Wege eines Vorabentscheidungsverfahren über die Verfassungsmäßigkeit der italienischen Bußgeldvorschrift, wonach die Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen von Ermittlungen der Behörde sanktioniert werden kann, zu entscheiden. Hierzu war zu überprüfen, ob die Richtlinie 2003/6/EG (Marktmissbrauchsrichtlinie – „MAD“ (market abuse directive)) und die Verordnung 596/2014/EU (Marktmissbrauchsverordnung – „MAR“ (market abuse regulation)) zum Marktmissbrauch mit dem Schweigerecht vereinbar sind.

Die Entscheidung

Der EuGH bestätigt das Recht einer natürlichen Person, in einem gegen sie gerichteten Verwaltungssanktionsverfahren wegen Insidergeschäften zu schweigen, wenn sich aus ihren Antworten eine strafrechtliche Verantwortlichkeit oder eine Verantwortlichkeit für Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur ergeben kann. Die in Art. 47 und 48 der EU Grundrechte-Charta (GRCh) garantierten justiziellen Rechte sind danach unter Berücksichtigung des durch Art. 6 EMRK garantierten Mindestschutzes auszulegen. Das hierdurch gewährleistete Recht eines Verdächtigen, in einem Strafverfahren zu schweigen, sei verletzt, wenn ihm bei einer Aussageverweigerung Sanktionen drohen und dieser sodann aussagt oder wegen seiner Weigerung bestraft wird. Das Schweigerecht müsse auch in Verfahren zur Feststellung von Verwaltungsverstößen gewahrt werden, die zur Verhängung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur führen können. Mit einigen der von der italienischen Börsenaufsicht verhängten Verwaltungssanktionen werde eine repressive Zielsetzung verfolgt. Ihnen könne aufgrund ihres hohen Schweregrades strafrechtliche Natur beigemessen werden.

Weigere sich eine Person im Rahmen eines Verwaltungssanktionsverfahren, der Behörde Antworten zu geben und wird deswegen sanktioniert, ist dies dem EuGH zufolge dann vom Schweigerecht gedeckt, wenn sich aus den Antworten eine straf- oder verwaltungssanktionsrechtliche Verantwortlichkeit der Person ergeben würde.

Allerdings rechtfertige das Recht zu schweigen nicht jede Weigerung der Zusammenarbeit mit der Behörde. Der EuGH stellt klar, dass unter anderem eine Weigerung, zu einer Anhörung zu erscheinen, sowie eine Hinhaltetaktik, um die Durchführung der Anhörung zu verzögern, nicht davon erfasst seien.

Abschließend stellte der EuGH fest, dass sowohl die MAD als auch die MAR mit dem Schweigerecht vereinbar seien und so ausgelegt werden könnten, dass keine Verpflichtung bestünde, einer Person für die Weigerung Antworten zu geben, eine Sanktion aufzuerlegen. Die Mitgliedstaaten hätten dafür zu sorgen, dass hierfür keine Sanktion verhängt werde.

Praxishinweise

Der EuGH stellt klar, dass die Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“), die sich u. a. im Schweigerecht manifestiert, nicht nur im Strafverfahren gilt, sondern auch in Verwaltungssanktionsverfahren. Übertragen auf das deutsche Recht bedeutet dies, dass das Schweigerechte auch im Bußgeldverfahren Geltung beansprucht, soweit der hier Betroffene sich durch die Mitwirkung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit selbst belasten würde, und zwar schon im frühen Stadium der ersten Anhörung.

Dass der EuGH die Erscheinenspflicht von der Anwendung des Schweigerechts ausnimmt, ist keine Überraschung. Kritikwürdig ist allerdings die Sichtweise des EuGH, dass eine Art „Hinhaltetaktik“ sanktioniert werden darf. Das Schweigerecht ist Kehrseite des Rechts des Beschuldigen und Betroffenen, sich zu jeder Zeit des Verfahrens äußern zu dürfen (arg. e § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 46 OWiG). Es muss dem Betroffenen möglich sein, auch im Laufe des Verfahrens seine Auffassung, ob er sich äußern will oder nicht, zu ändern und demgemäß auch ursprünglich vereinbarte Termine absagen können, ohne hierfür sanktioniert zu werden. Ob dies taktisches „Hinhalten“ ist oder aber Unsicherheit oder zulässige Verteidigungsstrategie, ist eine naturgemäß problematische Abgrenzung.

Ob auch Unternehmen ein Schweigerecht im Verwaltungssanktionsverfahren haben, hat der EuGH nicht entschieden. Im deutschen Recht wird Unternehmen eine beschuldigten-ähnliche Rolle zugeschrieben, wenn die Festsetzung einer Verbandsgeldbuße oder die Anordnung der Einziehung von Taterträgen droht (vgl. jüngst BVerfG, Beschl. v. 27.6.2018 - 2 BvR 1405/17 und 1780/17 im sog. "Diesel-Skandal"). Von einem Bußgeldverfahren betroffene Unternehmen sollten daher, bevor sie sich zum Vorwurf äußern, zwingend zuvor die Bußgeldakte anfordern, um sich Klarheit über die konkreten Anknüpfungspunkte des Verdachts zu verschaffen.

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