Update Arbeitsrecht November 2022
Fristlose Kündigung wegen sexueller Belästigung von Praktikantinnen
LAG Niedersachsen, Urteil vom 20.06.2022 – 12 Sa 434/21
Der Ausspruch einer außerordentlich fristlosen Kündigung eines langjährig beschäftigten Arbeitnehmers wegen der fortgesetzten sexuellen Belästigung mehrerer Praktikantinnen bedarf nicht in jedem Fall einer vorherigen Abmahnung. Die Pflichtverletzung wiegt umso schwerer, wenn der Arbeitnehmer ein bestehendes Machtgefälle gezielt ausnutzt, um die Duldung seines Verhaltens zu erreichen.
Sachverhalt
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Der Kläger war seit 2002 bei der Beklagten als Marktforscher und Marketingplaner tätig, welche u.a. für den Verkauf von Fahrzeugen an Behörden und Direktkunden zuständig ist. Mit Schreiben vom 8. Dezember 2020 kündigte die Beklagt das bislang formal unbelastete Arbeitsverhältnis mit dem Kläger, ohne diesen vorher abzumahnen. Zuvor hatte die Beklagte in einem Zeitraum von fast zwei Monaten die Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den Kläger genauer untersucht. Letztendlich bestätigte auch die Beweisaufnahme durch Vernehmung der betroffenen Praktikantinnen die streitgegenständlichen Vorwürfe. Neben einzelnen sexualisierten Übergriffen (Hand auf den Oberschenkel bzw. den Bauch gelegt, Massagebewegungen im Nacken oder auf den Schultern der Zeuginnen), konnten dem Kläger auch mehrere verbale Belästigungen nachgewiesen werden. Gleich zu Beginn ihres Einsatzes fragte der Kläger die Zeuginnen zum Beispiel, ob sie einen Freund haben und wies daraufhin, dass man im Vertrieb „zweigleisig fahren“ müsse, schließlich gingen ja auch ihre Freunde fremd. Außerdem habe bei den After-Work-Partys der Abteilung schon jeder was mit jedem gehabt. In einer anderen Situation behauptete der Kläger gegenüber einer Zeugin, dass er es mit einer anderen Praktikantin auch schon einmal im Kopierraum „getrieben“ habe und man sich bei der Beklagten auch „hochschlafen“ könne. Während einer Dienstreise trug er den Koffer einer Praktikantin unaufgefordert in ihr Hotelzimmer und fragte sie im Anschluss, ob er direkt bleiben könne. Dabei verwies der Kläger immer wieder auf seine bessere Stellung im Betrieb und versuchte damit die Duldung der Übergriffe zu erzwingen. Beispielsweise ermahnte er eine Praktikantin, die sein Verhalten zuvor als „unprofessionell“ bezeichnete, mit den Worten „Denk daran, dass ich auch dein Praktikumszeugnis schreibe“.
Entscheidung
Nachdem das Arbeitsgericht Hannover der Kündigungsschutzklage des Klägers stattgegeben hat, sah das LAG Niedersachsen die außerordentliche Kündigung als sogenannte Verdachtskündigung als rechtswirksam an.
Nach Auffassung der 12. Kammer stellt das Verhalten des Klägers eine sexuelle Belästigung dar, die als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB geeignet sei, das Arbeitsverhältnis außerordentlich zu kündigen. Demnach bezwecke bzw. bewirke das sexuell bestimmte Verhalten des Klägers, die Würde der Praktikantinnen zu verletzen. Darunter fallen nicht nur die nachgewiesenen sexuell bestimmten körperlichen Berührungen, sondern auch die unzähligen Bemerkungen sexuellen Inhalts.
Wegen der Schwere der vom Kläger begangenen Pflichtverletzung bedurfte es nach Auffassung des Gerichts auch keiner vorherigen Abmahnung. Durch die sexualisierten körperlichen Übergriffe und die unerwünschte Thematisierung sexueller Inhalte im Arbeitsverhältnis sei die für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauensgrundlage irreparabel zerstört.
Das LAG Niedersachsen betont in seiner Entscheidung, dass es besonders verwerflich sei, dass der Kläger seine gefestigte hierarchische Stellung bei der Beklagten und eine (suggerierte) Abhängigkeit der betroffenen Frauen ausgenutzt habe, um die Duldung der sexuellen Belästigungen zu erreichen. Der Kläger habe gezielt junge Mitarbeiterinnen ausgewählt, die nach ihrem Vertragsstatus und ihrer sozialen Einbindung noch am wenigsten bei der Beklagten etabliert und daher am angreifbarsten seien und so das bestehende Machtgefälle missbraucht.
Im Rahmen der Interessenabwägung sei außerdem zu berücksichtigten, dass die Beklagte nach § 12 AGG dazu verpflichtet sei, einen effektiven Schutz vor sexuellen Belästigungen i.S.d. § 3 Abs. 4 AGG sicherzustellen. Welche arbeitsrechtlichen Maßnahmen (z. B. Abmahnung, Versetzung, Kündigung) der Arbeitgeber letztendlich ergreifen muss, hänge vor allem von dem Umfang und der Intensität des Eingriffs ab. Geeignet sei eine Maßnahme allerdings nur dann, wenn sie weitere Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung für die Zukunft wirksam unterbinde.
Auch den Einwand des Klägers, die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist sei durch die langen Untersuchungsmaßnahmen überschritten worden, wies das LAG Niedersachsen zurück. Die Frist beginne erst dann, wenn der Kündigungsberechtigte von den maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt habe. In dem zugrundeliegenden Fall sei die Sachverhaltsaufklärung zügig und mit einem dem komplexen Sachverhalt angemessenen Aufwand durchgeführt worden. Die Aufarbeitung des umfassenden Kündigungssachverhalts durfte demnach auch bis zu zwei Monate beanspruchen, ohne dass die Frist des § 626 Abs.2 BGB zu laufen begänne.
Fazit
Die neueste Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt, dass 9 % aller Beschäftigten (Frauen: 13 %, Männer: 5 %) in den letzten drei Jahren an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt wurden. Allein diese Zahlen zeigen, wie aktuell das Thema ist.
Die Entscheidung des LAG Niedersachsen ist insofern zu begrüßen. Sie konkretisiert, wann eine außerordentliche Kündigung wegen sexueller Belästigung ohne vorherige einschlägige Abmahnung in Betracht kommt und stärkt damit die Position der Arbeitgeber, die sich in vergleichbaren Situationen die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Kündigung stellen.
Sobald der Vorwurf der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz erhoben wird, ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Sachverhalt vollumfänglich aufzuklären. Nur so kann er im zweiten Schritt über geeignete Maßnahmen entscheiden. Neben der belästigten Person ist auch der beschuldigte Mitarbeitende zu dem Tathergang und den weiteren Umständen vollumfänglich zu befragen. Es empfiehlt sich, die Gespräche wörtlich zu protokollieren und einzelne Ermittlungsschritte und Zwischenergebnisse sorgfältig zu dokumentieren. Bestehen weiterhin ernsthafte Zweifel an den Vorwürfen, ist der Sachverhalt mit weiteren zur Verfügung stehenden Mitteln aufzuklären. Neben der Befragung von Kolleginnen und Kollegen, kommt unter Umständen auch die Auswertung anderer Beweismittel, wie z.B. E-Mails oder Telefonate in Betracht. Mit Hinblick auf die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist gem. § 626 Abs. 2 BGB ist es besonders wichtig, die Ermittlungen möglichst zügig durchzuführen. Denn nur so wird die Frist gem. § 626 Abs. 2 BGB zur Erforschung des Kündigungssachverhalts auch tatsächlich gehemmt. Wie auch der vorliegende Fall zeigt, bildet diese Frage nicht selten auch einen Schwerpunkt gerichtlicher Auseinandersetzungen. Ergreift der Arbeitgeber daraufhin nicht die erforderlichen Maßnahmen, macht er sich gem. § 12 AGG selbst gegenüber der belästigten Person schadensersatzpflichtig. Der Arbeitgeber sollte den Vorwürfen daher in jedem Fall gründlich nachgehen.
1. www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/umgang_mit_sexueller_belaestigung_am_arbeitsplatz_kurzfassung.pdf (letzter Aufruf: 20.11.2022)