Update Arbeitsrecht April 2023
Anspruch auf Tarifzuschläge nach Betriebsübergang aus betrieblicher Übung
LAG Sachsen, Urteil vom 30.12.2022 – 1 Sa 87/22
Eine in der Praxis häufige Streitfrage ist die nach der Entstehung von Ansprüchen aus betrieblicher Übung. Eine betriebliche Übung ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei der Gewährung von in regelmäßigen Abständen an die Belegschaft geleisteten Sonderzahlungen bereits nach deren dreimaliger Zahlung anzunehmen. Etwas anderes gilt nur dann, falls besondere Umstände hiergegen sprechen oder der Arbeitgeber einen Bindungswillen für die Zukunft wirksam ausgeschlossen hat. Ein besonderer Umstand liegt insbesondere dann vor, wenn der Arbeitgeber Leistungen gewähren wollte, zu denen er erkennbar aus einem anderen Rechtsgrund verpflichtet war oder sich verpflichtet glaubte.
Mit der Frage, ob ein Anspruch auf Entgeltzuschlag aufgrund betrieblicher Übung entstehen kann, obwohl der Arbeitgeber lediglich der Erfüllung einer vermeintlichen tarifvertraglichen Verpflichtung nachkommen wollte, hatte sich jüngst das LAG Sachsen auseinanderzusetzen.
Sachverhalt
Der Kläger war ein seit dem Jahr 1996 bei der Johanniter-Unfall-Hilfe beschäftigter Rettungssanitäter, der dort in 12-Stunden-Diensten tätig war. Auf das Arbeitsverhältnis fanden kraft arbeitsvertraglicher Einbeziehung die Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche in Deutschland (AVR) in der jeweils gültigen Fassung Anwendung.
Nachdem das Arbeitsverhältnis im Wege eines Betriebsübergangs auf eine gemeinnützige Gesellschaft des Arbeiter-Samariter-Bundes übergegangen war, wurde dem Kläger fortan für die elfte und zwölfte Stunde jeder Schicht ein Zuschlag von 65% des AVR-Überstundensatzes ausbezahlt. Diese Zuschläge wurden in der Lohnabrechnung mit dem Zusatz „Bereitschaft AVR“ ausgewiesen.
Das Arbeitsverhältnis des Klägers ging im Jahr 2015 erneut durch Betriebsübergang auf einen neuen Arbeitgeber über. Dieser gewährte den Zuschlag zunächst unverändert weiter und wies diesen in der Lohnabrechnung fortan als „Bereitschaftszuschlag 65%“ aus. Der Arbeitgeber stellte im Jahr 2021 die Zuschlagszahlungen mit der Begründung ein, dass keine tarifrechtliche Rechtsgrundlage für die Zahlung eines solchen Zuschlags vorhanden sei. Der Kläger leiste keinen Bereitschaftsdienst, sondern werde vielmehr regulär in der Arbeitsbereitschaft eingesetzt.
In erster Instanz folgte das Arbeitsgericht Dresden der Argumentation des Arbeitgebers und wies die Klage ab. Hiergegen richtete sich die Berufung des Klägers, über die das LAG Sachsen zu entscheiden hatte.
Entscheidung
Das LAG Sachsen hat der Klage auf Fortzahlung der Zuschläge stattgegeben und die Entstehung einer betrieblichen Übung bejaht.
Die Entscheidung begründet das LAG Sachsen damit, dass der Zuschlag vom neuen Arbeitgeber seit dem Übergang des Arbeitsverhältnisses im Jahr 2015 ununterbrochen und nicht mehr als „Bereitschaft AVR“, sondern als „Bereitschaftszuschlag 65%“ weitergewährt wurde. Diesem Verhalten habe der Kläger rechtsgeschäftlichen Erklärungswert beimessen und darauf vertrauen dürfen, dass der Arbeitgeber den Bereitschaftszuschlag fortan als freiwillige Leistung weitergewähren wolle. Denn darauf deute vor allem die Veränderung der Bezeichnung des Zuschlags in den Entgeltabrechnungen hin.
Während der alte Arbeitgeber mit dem Begriff „Bereitschaft AVR“ ausdrücklich auf die bei Beginn des Arbeitsverhältnisses vereinbarten AVR Bezug genommen hat, fehle eine solche Bezugnahme in den Lohnabrechnungen des neuen Arbeitgebers. Zweck der Abrechnung sei aber die Herstellung von Transparenz. Der Arbeitnehmer solle erkennen können, warum er gerade den ausgezahlten Betrag erhält. Deshalb habe der Kläger darauf vertrauen dürfen, dass auch die neuen Lohnabrechnungen richtig und vollständig sind. Mangels Bezugnahme auf die AVR habe der Kläger davon ausgehen dürfen, dass sein Arbeitgeber ab 2015 Bereitschaftszuschläge in der geltend gemachten Höhe für die elfte und zwölfte Stunde der Dienste als freiwillige Leistung zahlen wollte. Somit sei ein Anspruch aus betrieblicher Übung entstanden.
Praxistipp
Um nach einem Betriebsübergang Ansprüche aus betrieblicher Übung in Zusammenhang mit kollektivrechtlichen Zuschlägen zu vermeiden, sollten Arbeitgeber stets auch die Gestaltung der Entgeltabrechnung gründlich prüfen.
Nimmt der Arbeitgeber irrtümlich an, zur Leistung verpflichtet zu sein und zahlt deshalb über mehrere Jahre hinweg eine zusätzliche Leistung und erkennt der Arbeitnehmer, dass sich der Arbeitgeber lediglich normgemäß verhalten will, so entsteht zwar kein Anspruch für die Zukunft aus betrieblicher Übung. Der anspruchstellende Arbeitnehmer muss demnach darlegen, dass das Verhalten des Arbeitgebers aus Sicht des Empfängers ausreichende Anhaltspunkte dafür geboten hat, der Arbeitgeber wolle Zahlungen erbringen, ohne hierzu bereits aus anderen Gründen etwa aufgrund eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung verpflichtet zu sein.
Wie nunmehr das LAG Sachsen entschieden hat, kann aber bereits die andersartige Mitteilung des Zahlungsgrundes samt ununterbrochener Gewährung bestimmter Zuschläge seit dem Betriebsübergang dazu führen, dass diesem Verhalten ein Erklärungswert für eine freiwillige Leistung beigemessen wird und dadurch eine betriebliche Übung entsteht.