Update Arbeitsrecht Mai 2022
BAG: Keine Verschiebung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess durch „Stechuhr-Entscheidung“ des EuGH
Kürzlich hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Gelegenheit, eine Rechtsfrage zu beantworten, die seit der sog. „Stechuhr-Entscheidung“ des EuGH vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18 - [CCOO]) zahlreiche inländische Unternehmen branchenübergreifend beschäftigt hat. Der EuGH hatte bekanntermaßen geurteilt, dass die EU-Mitgliedstaaten die Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ zur Erfassung der Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers einzuführen. Diese Entscheidung wurde seinerzeit richtigerweise vor allem als Appell an die nationalen Gesetzgeber verstanden, die unionsrechtlich geforderten Mindestvorgaben des Arbeitsschutzes umzusetzen. Vielerorts entflammten jedoch Diskussionen darüber, ob sich die Entscheidung nicht (auch) anderweitig auswirken könnte; und zwar prozessual auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bei Überstundenvergütungsprozessen. Hierfür sprachen sich insbesondere arbeitnehmernahe Interessenvertreter, aber auch einige Arbeitsgerichte aus. Zu nennen ist insofern allen voran das Arbeitsgericht Emden, erstmals in seiner viel beachteten Entscheidung vom 20. Februar 2020 (Az. 2 Ca 94/19).
Sachverhalt
Bezeichnenderweise wurde auch die nachfolgend skizzierte Entscheidung des BAG in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht Emden verhandelt. Der Kläger war als Auslieferungsfahrer bei der Beklagten, die ein Einzelhandelsunternehmen betreibt, beschäftigt. Der Kläger erfasste den Beginn und das Ende eines jeden Arbeitstags, nicht jedoch die Pausenzeiten, mittels eines technischen Zeiterfassungssystems. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnungen einen positiven Saldo zugunsten des Klägers von 348 Stunden. Mit seiner Klage verlangte der Kläger Überstundenvergütung in Höhe von € 5.222,67 brutto. Hierbei machte er geltend, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Pausen zu nehmen sei nicht möglich gewesen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können.
Verfahrensgang
Das Arbeitsgericht Emden gab der Klage mit Urteil vom 9. November 2020 (Az. 2 Ca 399/18) statt. Es stützte sich hierbei wiederum maßgeblich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18 - [CCOO]). Dieses habe – so das Arbeitsgericht Emden – die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess modifiziert. Nach dieser Entscheidung seien die Arbeitgeber von den Mitgliedstaaten zu verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Werde hiergegen verstoßen, sei es ausreichend, wenn der Arbeitnehmer schlüssig die Zahl der Überstunden vortrage. Bereits das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen teilte die Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts Emden nicht. Daher wies es die Überstundenvergütungsklage weit überwiegend ab (LAG Niedersachsen, Urteil vom 6. Mai 2021, Az. 5 Sa 1292/20).
Entscheidung des BAG
Die hiergegen eingelegte Revision des Klägers hatte auch vor dem BAG keinen Erfolg. Das BAG betont in seiner Pressemitteilung, das LAG Niedersachsen habe zutreffend festgestellt, dass das genannte Urteil des EuGH sich nicht auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess auswirke. Diese Entscheidung sei zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Europäischen Grundrechtecharta ergangen. Diese Bestimmungen beschränkten sich nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH jedoch auf Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zur Gewährleistung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, nicht aber auf Fragen der Vergütung. Insoweit verbleibe es bei den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen. Hiernach habe der Arbeitnehmer im Überstundenvergütungsprozess (1) darzulegen, in welchem Umfang er Überstunden geleistet habe und (2) vorzutragen, dass der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt habe. Auf dieses Erfordernis einer Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer könne (weiterhin) nicht verzichtet werden. Vorliegend habe der Kläger dementgegen schon nicht dargelegt, dass es erforderlich gewesen sei, ohne Einhaltung der Pausenzeiten durchzuarbeiten. Ob diese Behauptung überhaupt wahr sei, könne daher offenbleiben.
Praxishinweis
Die Entscheidung des BAG liegt bislang nur als Pressemitteilung vor. Daher bleibt abzuwarten, ob sich das BAG in den Entscheidungsgründen im Wesentlichen darauf beschränken wird, sich der überzeugenden Argumentation der Vorinstanz anzuschließen oder eigene, weitergehende Überlegungen anstellt. Unabhängig davon verdient das Ergebnis der Entscheidung uneingeschränkte Zustimmung. Die seit dem „Stechuhr-Urteil“ zwischenzeitlich aufgeflammten Diskussionen über eine mögliche Verschiebung der Darlegungs- und Beweislast in Überstundenprozessen und die damit einhergehende Verunsicherung der Unternehmen dürften damit überholt sein.
Bemerkenswert ist, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor zwei Monaten einen Referentenentwurf vorgelegt hat, durch den die EU-rechtlichen Vorgaben, konkretisiert durch die vor drei Jahren ergangene Entscheidung des EuGH, umgesetzt werden sollen. Dieser Entwurf sieht unter anderem vor, dass zukünftig Arbeitgeber in den elf im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Branchen und Wirtschaftszweigen und den Bereichen der Arbeitnehmerüberlassung und Arbeitnehmerentsendung Arbeitszeiten elektronisch und manipulationssicher tagesaktuell aufzeichnen müssen. Der Entwurf geht hinsichtlich der technischen Umsetzung damit noch über die vom EuGH gestellten Anforderungen hinaus. Hinsichtlich des sachlichen und persönlichen Anwendungsbereichs bleibt er demgegenüber dahinter zurück, weil er gerade keine branchenübergreifende Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung vorsieht. Abzuwarten bleibt, ob und mit welchem Inhalt das Gesetz im kommenden Herbst verabschiedet wird.