Update Arbeitsrecht Oktober 2020
Berechnung des Mindestlohns in der Pflegebranche
BAG, Urteil vom 24. Juni 2020 – 5 AZR 93/19
Bei der Berechnung des Mindestlohns in der Pflegebranche haben die auf Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes erlassenen Rechtsverordnungen Vorrang vor dem Mindestlohngesetz. Eine solche Rechtsverordnung ist die Pflegearbeitsbedingungenverordnung („PflegeArbbV“). Danach ist es möglich nicht den gesamten Bereitschaftsdienst als vergütungspflichtige Arbeitszeit zu bewerten.
Hintergrund – die PflegeArbbV
Die PflegeArbbV ist eine Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, auf Grundlage der § 1 Abs. 3 und § 24 Abs. 1 MiLoG a.F. MiLoG und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Aktuell gilt die vierte Fassung der Verordnung, die zum 30. April 2022 außer Kraft tritt, um im Anschluss von einer Nachfolgeregelung abgelöst zu werden.
Der betriebliche Anwendungsbereich der PflegeArbbV ist eng begrenzt auf Pflegebetriebe im Sinne der Verordnung. Das sind gemäß § 1 Abs. 1 solche Betriebe und selbstständige Betriebsabteilungen, die überwiegend ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflegeleistungen oder ambulante Krankenpflegeleistungen für Pflegebedürftige erbringen. Krankenhäuser sind davon zum Beispiel nicht erfasst, da dort die medizinische Versorgung im Vordergrund steht.
Kernaussage der PflegeArbbV – und insoweit unspektakulär – ist, dass den Mitarbeitern der Höhe nach zumindest der gesetzliche Mindestlohn als Vergütung zusteht. Welche Anteile der Bereitschaftszeiten zur Berechnung der monatlichen Vergütung anrechenbar sind, regelt die Verordnung allerdings abweichend von den Grundsätzen des MiLoG. Die (aktuelle) vierte PflegeArbbV sieht in § 4 Abs. 6 die Möglichkeit einer abweichenden Regelung zur Anrechnung relevanter Bereitschaftszeiten auf bis zu (nur) mindestens 40 Prozent vor. Das ist in Anbetracht des Charakters der PflegeArbbV als Übergangsregelung zur Anpassung der Gehälter im Pflegebereich angebracht und zur Honorierung der Leistungen von Pflegekräften geboten.
Diese Herabsetzung ist allerdings nur solange möglich, wie die Arbeitsleistung innerhalb eines Bereitschaftsdienstes nicht mehr als 25 Prozent erfasst und das Gesamtvolumen des Bereitschaftsdienstes nicht über 64 Stunden im Monat hinausgeht. Zeiten, die über diesen Untergrenzen geleistet werden, können dann nicht mehr nur anteilig als vergütungspflichtige Arbeitszeit gewertet werden und sind voll zu entlohnen. Oberstes Postulat ist dabei, dass der Bruttomonatsverdienst dividiert durch die Summe der Vollarbeitszeiten und ggf. nur teilweise berücksichtigungsfähigen Bereitschaftsstunden niemals unter der Grenze des gesetzlichen Mindestlohns liegen darf.
Was von „Bereitschaftsdienst“ umfasst ist, definiert die PflegeArbbV selbst in Anlehnung an das BAG dahingehend, dass sich Arbeitnehmer, außerhalb ihrer regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten, um im Bedarfsfall die Arbeit aufzunehmen, was der Definition des BAG entspricht (vgl. BAG, Urteil vom 28. Januar 2004, 5 AZR 530/02).
Fragestellung des BAG
Das BAG hatte vor diesem Hintergrund zu entscheiden, ob die bei einem Pflegedienst geltenden Richtlinien, die der PfelgeArbbV nachgebildete Regelungen enthalten, den Anspruch der Klägerin auf gesetzlichen Mindestlohn für Zeiten des Bereitschaftsdienstes beschränken können.
Sachverhalt der Entscheidung des BAG
Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche nach dem Mindestlohngesetz. Die Klägerin ist seit Oktober 2015 bei dem Beklagten, dem Caritasverband e. V., in der „Nachtwache“ in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft als Alltagsbegleiterin in Teilzeit im Bereitschaftsdienst tätig. Die Tätigkeit in der Nachtwache besteht darin, auf nächtliche Hilfeanforderungen der Bewohner zu reagieren.
Auf das Arbeitsverhältnis finden die „Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes“ („AVR“) in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung. In Anlage 5 der AVR heißt es in § 9 in Bezug auf die Vergütung, dass die Zeit des Bereitschaftsdienstes zu 25 Prozent als Arbeitszeit bewertet wird.
Mit der Klage verfolgte die Klägerin das Ziel, für die komplette Zeit der Nachtwache in den Jahren 2015 bis 2017 in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns vergütet zu werden.
Die zum Zeitpunkt der Entscheidung anwendbare zweite PflegeArbbV sah die Möglichkeit vor, Zeiten des Bereitschaftsdienstes zu lediglich 25 Prozent als Arbeitszeit anzurechnen.
Entscheidung des BAG
Das BAG hat auf die Revision der Beklagten das Urteil des LAG Hamm abgeändert und der Klägerin keinen Anspruch auf eine weitere Vergütung für das Jahr 2017 zuerkannt.
Das Mindestlohngesetz werde durch die jeweils geltende PflegeArbbV verdrängt. Im Ausgangspunkt erkennt das BAG im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. BAG, Urteil vom 29. Juni 2016, 5 AZR 716/15), dass Bereitschaftsdienst vergütungspflichtige Arbeit im Sinne von § 611a Abs. 2 BGB ist und insofern ein ungeschmälerter Anspruch auf Zahlung des Mindestlohns nach dem MiLoG bestehe, da dieses keine abweichende Regelung für Bereitschaftszeiten enthalte.
Das MiLoG enthalte jedoch in § 1 Abs. 3 und § 24 Abs. 1 MiLoG a.F. einen Vorrang von Rechtsverordnungen, die auf Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes erlassen worden seien, soweit dadurch nicht die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns nach § 1 MiLoG unterschritten werde. Dies erfasse allerdings nur die Höhe des Mindestentgelts selbst und nicht etwaige Bestimmungen welche Arbeitsleistungen als Arbeitszeit bewertet würden. Das verkannte das LAG Hamm in seiner Entscheidung.
Eine eben solche Verordnung sei die PflegeArbbV. Regelungen zur Vergütungspflicht von Arbeitszeiten gingen den Regelungen des MiLoG vor, solange der Mindestlohn nicht der Höhe nach unterschritten werde. In der Pflegebranche sei dies auch Ausfluss aus dem Charakter der Regelungen als Übergangsregelung. So sei eine Vergütung für Bereitschaftsdienste in der Pflegebranche vor den PflegeArbbV nur in Abhängigkeit vom Grad der Inanspruchnahme verbreitet gewesen und eine stufenweise Heranführung unter Berücksichtigung der Anpassung der Ertragskraft der Pflegeunternehmen angebracht.
Die AVR deckten sich insoweit mit der anwendbaren zweiten PflegeArbbV (25 Prozent der Bereitschaftszeit als Arbeitszeit). Diese Anforderungen habe die Beklagte auch erfüllt. Ein weiterer Anspruch der Klägerin bestehe daher nicht.
Hinweise
Die Entscheidung stellt eine pflegespezifische Entscheidung dar.
Der Verordnungsgeber ermöglicht es den Tarif-/Betriebs- und Arbeitsvertragsparteien, eine flexible Lösung für die Vergütung der Mitarbeiter, die im Bereitschaftsdienst arbeiten, zu finden. Durch die Regelung werden die Arbeitgeber entlastet und die Mitarbeiter gleichzeitig gestärkt. Ihr Bruttomonatseinkommen, darf die Grenze des gesetzlichen Mindestlohns nicht unterschreiten und die im Rahmen des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit anrechenbaren Zeiten steigen zunehmend.
In Unternehmen, die Regelungen aufgrund der 2. PflegeArbbV getroffen haben, wird zu einer umgehenden Überprüfung der Regelungen angeraten sein, da sich die Anrechnungszeiten des Bereitschaftsdienstes von 25 Prozent auf 40 Prozent erhöht haben und damit potentielle Klagen der Mitarbeiter drohen, da entsprechende Vereinbarungen vor dem Hintergrund der jetzt gültigen 4. PflegeArbbV unwirksam sein werden.