22.11.2023Fachbeitrag

Update Compliance 8/2023

Bundesverfassungsgericht: Keine Wiederaufnahme von Strafverfahren gegen eine freigesprochene Person

Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gegen eine freigesprochene Person verstößt gegen das Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat die entsprechende Vorschrift des § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig erklärt.

§ 362 Nr. 5 StPO hatte eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen eine freigesprochene Person wegen Mordes und bestimmter Völkerstraftaten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel ermöglicht. Das BVerfG (Urteil vom 31. Oktober 2023 – 2 BvR 900/22) sieht hierin ein Verstoß gegen das Mehrfachverfolgungsverbot (ne bis in idem) als auch gegen das Rückwirkungsverbot.

Hintergrund

§ 362 Nr. 5 StPO ist eine vergleichsweise junge Vorschrift: Eingeführt wurde sie im Jahr 2021 durch das sog. "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit". Eine rechtskräftig freigesprochene Person sollte danach erneut angeklagt werden können. Voraussetzung war, dass neue Tatsachen oder Beweismittel zutage kommen mussten, die dringende Gründe dafür bilden, dass die Person nunmehr verurteilt würde. Beschränkt wurde die Anwendung auf die unverjährbaren Straftaten des Mordes sowie bestimmter Völkerstraftaten.

Bereits lange vor Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO hatte es Reformvorschläge zur Einführung eines Wiederaufnahmegrundes gegeben: 2008 legte der Bundesrat einen entsprechenden Entwurf vor, 2010 einen Gesetzesantrag. Diese Initiativen hatten sich indes sich nicht durchsetzen können.

Mit der Begründung, dass es in bestimmten Fällen einen „unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß“ darstelle, wenn an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils festgehalten werden müsse, obwohl nun der Tatnachweis sicher geführt werden könne, wurde § 362 Nr. 5 StPO im Jahr 2021 dann in die Strafprozessordnung aufgenommen. Der Gesetzgeber hatte dabei besonders die Fälle neuer Untersuchungsmethoden – Analyse von DNA-Material und digitaler Forensik – im Blick.

Der verfahrensgegenständliche Fall

Am 13. Mai 1983 wurde der Beschwerdeführer vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes rechtskräftig freigesprochen. Im Februar 2022 stellte die zuständige Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach dem neuen § 362 Nr. 5 StPO sowie auf Erlass eines Haftbefehls. Anlass dafür war, dass nachträglich DNA-Spuren zugeordnet werden konnten, die am Körper des Opfers gefunden wurden. Den Anträgen der Staatsanwaltschaft wurde stattgegeben. Nachdem seine Rechtsmittel hiergegen erfolglos blieben, zog der Beschwerdeführer vors BVerfG.

Das Urteil des BVerfG

Das BVerfG hat den Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO aus zwei Gründen für verfassungswidrig erklärt. Zu einem verstoße die Vorschrift gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem). Danach darf, wenn ein ein rechtkräftiges Urteil ergangen ist, niemand wegen derselben Tat nochmals bestraft werden. Dieser Schutz sei - so das Bundesverfassungsgericht - "absolut" und damit keiner Abwägung zugänglich. Das Grundgesetz selbst gewähre damit der Rechtssicherheit einen universell gelten Vorrang vor Verfolgungsinteressen. Dieser Vorrang gelte auch im Verhältnis zum Prinzip der materialen Gerechtigkeit, also das inhaltlich „richtige“ Strafurteil zu finden. Andernfalls könnte ein Strafprozess faktisch nie enden, da immer wieder neue Beweise auftauchen könnten.

Die bereits bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Freigesprochenen seien daher gerade nicht darauf gerichtet, das inhaltliche Ergebnis zu korrigieren. Diese sollen lediglich schwerwiegende Verfahrensmängel heilen und die Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens absichern.

Schließlich verstoße § 362 Nr. 5 StPO gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. § 362 Nr. 5 StPO habe auch Freisprüche erfasst, die bereits vor Erlass der neuen Norm ergangen sind. Freigesprochene müssten aber darauf vertrauen dürfen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der damals geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Dieses Erfordernis sei nicht eingehalten worden. Eine solche „echte“ Rückwirkung sei auch nicht ausnahmsweise zulässig.

Das Sondervotum

Eine Minderheit des Senats formulierte ein abweichendes Sondervotum. Danach sei Art. 103 Abs. 3 GG sehr wohl abwägungsfähig zu anderen Verfassungsgütern. Ob das Verfassungsgut der materialen Gerechtigkeit im konkreten Fall das Mehrfachverfolgungsverbot überwogen hätte, ließen die abweichenden Richter aber ausdrücklich offen.

Rezeption und Bedeutung

Das Urteil wurde gemischt aufgenommen. Kritiker stellen vor allem Aspekte der materialen Gerechtigkeit im konkreten Fall ins Zentrum ihrer Argumentation. Befürworter der Entscheidung nehmen Bezug auf die politischen Missbrauchsmöglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten Freigesprochener, wie sie in Unrechtsstaaten vorkommen, etwa um missliebige Regimekritiker mundtot zu machen. In diesem Zusammenhang wird auch darauf verwiesen, dass auch zu Recht Freigesprochene eine Wiederaufnahme erleiden könnten und niemals einen - material gerechten - Verfahrensabschluss hätten.

Für die wirtschaftsstrafrechtliche Praxis hat das Urteil zwar allenfalls untergeordnete Bedeutung. Es macht aber deutlich, wie sehr sich das Straf- und Strafprozessrecht mit seinem freiheitseinschränkenden Instrumenten an der Verfassung messen lassen muss - Durchsuchung, Beschlagnahme, Vermögensarrest, Untersuchungshaft sind freiheits- und vermögenseinschränkende Maßnahmen, die auch in Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren zum Alltag gehören, und die sich am Grundgesetz zu messen haben. Nicht umsonst existiert eine Vielzahl an Entscheidungen zu richterlichen Durchsuchungsbeschlüssen.

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