29.08.2024Fachbeitrag

Update Arbeitsrecht August 2024

Inflationsausgleichsprämie während der Elternzeit

ArbG Essen 16.04.2024 - 3 Ca 2231/23)

Das Arbeitsgericht Essen hat mit Urteil vom 16. April 2024 (Az. 3 Ca 2231/23) einer Arbeitnehmerin in Elternzeit einen Anspruch gegen den Arbeitgeber auf Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie zugesprochen. Der im Tarifvertrag geregelte Ausschluss von Arbeitnehmern ohne Entgeltbezug von der Inflationsausgleichsprämie verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG. Insbesondere bestünden keine sachlichen Gründe für eine Ungleichbehandlung zwischen in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmern und solchen Arbeitnehmern, die sich ohne Krankengeldzuschuss im Krankengeld- oder Kinderkrankengeldbezug befinden. Arbeitnehmer in Elternzeit sind daher so zu stellen, als würden sie zum Kreis der Anspruchsberechtigten zählen.

Sachverhalt

Die Klägerin war seit 2019 bei der Beklagten beschäftigt. In der Zeit zwischen Sommer 2022 bis ins Jahr 2024 befand sich die Klägerin in Elternzeit.

In § 2 des Arbeitsvertrags war Nachfolgendes geregelt:

„Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach der durchgeschriebenen Fassung des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) für den Bereich Verwaltung (TVöD-V) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) jeweils geltenden Fassung. Außerdem finden die im Bereich des Arbeitgebers jeweils geltenden sonstigen einschlägigen Tarifverträge Anwendung.“

Während der Elternzeit zahlte die Beklagte an die Klägerin keinen Inflationsausgleich nach dem Tarifvertrag über Sonderzahlungen zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise vom 22. April 2023, der zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der VKA, ver.di u.a. abgeschlossen worden ist. Denn §§ 2, 3 des Tarifvertrags verlangen für einen Anspruch auf die Inflationsausgleichsprämie, dass der Arbeitnehmer an mindestens einem Tag zwischen dem 1. Januar 2023 und dem 31. Mai 2023 einen Entgeltanspruch hatte und diesen auch an mindestens einem Tag im Bezugsmonat hatte.

Die Klägerin verlangte sodann Auszahlung der Inflationsausgleichsprämie unter Berufung auf den Tarifvertrag sowie unter Berufung auf § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG und erhob Klage, nachdem die Beklagte die Auszahlung verweigerte. Mit ihrer Klage verlangte die Klägerin zugleich die Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 8.000,00 Euro gemäß § 15 Abs. 3 AGG.

Entscheidungsgründe

Das Arbeitsgericht Essen verurteilte die Beklagte zur Zahlung der beantragten Inflationsausgleichsprämie. Es lehnte jedoch einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Zahlung einer Entschädigung ab.

Anspruch auf Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie

Die Klausel des Tarifvertrages, mit der Beschäftigte ohne Entgeltbezug von der Zahlung der Inflationsausgleichsprämie ausgeschlossen werden, verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

1. Grundsätze der rechtlichen Bewertung

a) Mittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien

Zwar seien die Tarifvertragsparteien bei der Aufstellung der Tarifverträge nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Jedoch folge aus Art. 1 Abs. 3 GG, dass auch die Arbeitsgerichte zum Schutze der Grundrechte berufen sind. Der hieraus folgende Schutzauftrag verpflichte sie dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Die Gerichte haben insoweit praktische Konkordanz herzustellen. In der Folge bestehe eine zumindest mittelbare Grundrechtsbindungder Tarifvertragsparteien. Mithin seien auch Tarifnormen am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen.

b) Gerichtlicher Prüfungsmaßstab

Aufgrund der ebenfalls grundrechtlich geschützten Tarifautonomie stehe den Tarifvertragsparteien bei ihrer Normsetzung jedoch ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Ihnen stehe eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der tatsächlichen Gegebenheiten, der betroffenen Interessen sowie der Regelungsfolgen zu. Hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der tarifvertraglichen Regelungen stehe ihnen ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. In der Folge sind die tarifvertraglichen Regelungen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Die Gerichte dürfen nicht eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der Bewertungen der Tarifpartner setzen. Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt vielmehr, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt, der dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen ist. Ein weitreichender Entscheidungsspielraum stehe den Tarifvertragsparteien insbesondere bei der Lohnfindung sowie bei der Frage, welche Erschwernisse auf welche Weise durch finanzielle Sonderleistungen ausgeglichen werden sollen, zu. Insoweit gelte lediglich das Willkürverbotals äußere Grenze der Tarifautonomie.

Von den Arbeitsgerichten nachzuprüfen ist deshalb nur, ob Tarifregelungen, mit denen die Tarifvertragsparteien solche Erschwernisse ausgleichen wollen, offenkundig auf sachwidrigen, willkürlichen Erwägungen beruhen. Das ist der Fall, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für eine Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt. Ein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz in seiner Ausprägung als Willkürverbot liegt nicht etwa vor bei rein subjektiver Willkür des Normgebers, sondern vielmehr nur dann, wenn sich die tarifvertragliche Norm im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, die sie regeln soll, als objektiv unangemessen und damit objektiv willkürlich darstellt (vgl. BAG Urt. v. 20.07.2023 - 6 AZR 256/22, juris, Rn. 37 ff.).

c) Rechtsfolge eines Verstoßes

Verstößt ein Tarifvertrag insoweit gegen höherrangiges Recht, als er in gesetzes- oder verfassungswidriger Weise Personengruppen von einer Leistung ausschließt, so sei die Rechtsfolge nicht die Unwirksamkeit der gesamten begünstigenden Regelung, sondern lediglich die Unwirksamkeit der Ausschlussklausel. Mithin seien die Tarifvertragsbestimmungen auf die rechtswidrig ausgeschlossenen Personen zu erstrecken (vgl. BAG Urt. v. 24.09.2003 - 10 AZR 675/02, juris).

2. Vorliegen eines Verstoßes im konkreten Fall

Der Ausschluss von Arbeitnehmern in Elternzeit von der Inflationsausgleichsprämie sei vorliegend objektiv willkürlich und verstoße daher gegen den allgemeinen Gleichheitssatz.

Zwar sei es grundsätzlich zulässig, Arbeitnehmer in Elternzeit von bestimmten Leistungen auszunehmen. Jedoch sei die Differenzierung zwischen dem Kreis der Anspruchsberechtigten und dem Kreis der Nicht-Anspruchsberechtigten im vorliegenden Fall sachlich nicht nachvollziehbar.

Die Inflationsausgleichsprämie nach dem Tarifvertrag stelle keine Vergütung für erbrachte Arbeitsleistung dar. Denn auch Arbeitnehmer, die Krankengeld (ohne Krankengeldzuschuss) oder Kinderkrankengeld beziehen, sind anspruchsberechtigt. Daher sei kein sachlich einleuchtender Grund dafür ersichtlich, warum Arbeitnehmer in Elternzeit (die nicht in Teilzeit arbeiten), keinen Inflationsausgleich erhalten sollen. Denn diese erhalten genauso wie die Arbeitnehmer, die Krankengeld oder Kinderkrankengeld beziehen, kein Entgelt vom Arbeitgeber. In der Elternzeit ruhen die arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten (vgl. BAG Urt. v. 08.05.2018 - 9 AZR 8/18, juris, Rn. 22). Im Falle einer über den Entgeltfortzahlungszeitraum hinausgehenden Erkrankung ruht das Arbeitsverhältnis dagegen grundsätzlich nicht, sondern es liegt eine Leistungsstörung auf Arbeitnehmerseite vor (vgl. BAG Urt. v. 12.10.2022 - 10 AZR 496/21, juris, Rn. 33).

Allein die Schlagworte „ruhendes Arbeitsverhältnis“ einerseits und „Leistungsstörung“ andererseits seien jedoch nicht ausreichend, um einen sachlich vertretbaren Differenzierungsgrund zu bilden. Vielmehr sei zu prüfen, worin die inhaltlichen Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede konkret bestehen. Das Arbeitsverhältnis bestehe in beiden Konstellationen fort, ohne dass ein wechselseitiger Leistungsaustausch stattfindet und ohne, dass der Arbeitgeber finanzielle Leistungen erbringt. Während Arbeitnehmer im Krankengeldbezug oder im Kinderkrankengeldbezug Leistungen von der Krankenkasse beziehen, beziehen Arbeitnehmer in Elternzeit üblicherweise Elterngeld von der öffentlichen Hand. Beide Arbeitnehmergruppen sind jedoch in gleicher Weise von den gestiegenen Lebenshaltungskosten betroffen. Beide Arbeitnehmergruppen sind zudem betriebstreu, da sie ihre Arbeit typischerweise nach ihrer Genesung bzw. nach Ablauf der Elternzeit wieder aufnehmen. Dass der Zeitpunkt des Endes der Elternzeit in der Regel feststeht, der Zeitpunkt der Genesung hingegen regelmäßig nicht, ist kein sachliches Differenzierungskriterium. Insoweit besteht mithin kein Grund für eine günstigere Behandlung von Arbeitnehmern im (Kinder-)Krankengeldbezug. Der einzige feststellbare Unterschied bestehe darin, dass die Inanspruchnahme von Elternzeit von dem Willen des Arbeitnehmers abhänge, die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers dagegen nicht. Ein sachlicher Differenzierungsgrund folge auch nicht daraus, dass die Elternzeit typischerweise einen längeren Zeitraum umfasst als die Bezugsdauer von Kinderkrankengeld.

Daher sei die Ungleichbehandlung zwischen Arbeitnehmern in Elternzeit und Arbeitnehmern im (Kinder-)Krankengeldbezug objektiv willkürlich, der Ausschluss von Arbeitnehmern in Elternzeit von der Inflationsausgleichsprämie mithin rechtswidrig. Die Beklagte war daher zur Zahlung der Inflationsausgleichsprämie an die Klägerin zu verurteilen.

Kein Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung

Der Klägerin stehe gegen die Beklagte jedoch kein Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG zu.

Gemäß § 15 Abs. 3 AGG ist der Arbeitgeber bei der Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen nur dann zur Entschädigung verpflichtet, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig handelt. Die Vorschrift ist unionsrechtskonform. Das Europarecht verlange keinen Schadensersatzanspruch oder Entschädigungsanspruch gegen den Arbeitgeber, der nicht Verursacher einer Ungleichbehandlung ist. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit der Beklagten seien jedoch nicht ersichtlich. Grobe Fahrlässigkeit bei der Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen ist nur dann anzunehmen, wenn sich der diskriminierende Charakter der Regelung aufdrängt. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall. Vielmehr handele es sich um eine schwierige Rechtsfrage.

Praxishinweis

In seinem Urteil arbeitet das Arbeitsgericht Essen die Grundsätze der Prüfung eines Verstoßes von tarifvertraglichen Regelungen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz sorgsam heraus und nimmt sodann eine ausführliche Abwägung vor. Die Tarifvertragsparteien seien lediglich mittelbar an die Grundrechte gebunden und die tarifvertraglichen Regelungen seien nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Es gelte lediglich ein Willkürverbot als äußere Grenze der Tarifautonomie. Eine tarifvertragliche Regelung verstoße mithin nur dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, wenn sie objektiv willkürlich ist, wenn sie mithin offenkundig auf sachwidrigen, willkürlichen Erwägungen beruht. Dies hat das Arbeitsgericht Essen im vorliegenden Fall bezogen auf den Ausschluss der in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmer von der Inflationsausgleichsprämie zu Recht bejaht.

Angesichts der vorliegenden Entscheidung ist Arbeitgebern zu raten, von Arbeitnehmern in Elternzeit geltend gemachte Ansprüche auf Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie sorgsam zu prüfen und gegebenenfalls vor einer Ablehnung der Zahlung rechtlichen Rat einzuholen.

 

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