Update Arbeitsrecht Juni 2023
Ordentliche Verdachtskündigung bei fehlerhafter Arbeitszeiterfassung
LAG Mecklenburg-Vorpommern Urt. v. 28.03.2023 - 5 Sa 128/22
Das LAG Mecklenburg-Vorpommern hat entschieden, dass der dringende Verdacht einer fehlerhaften Arbeitszeiterfassung eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen kann, wenn sich ein Arbeitnehmer aller Wahrscheinlichkeit nach von zu Hause aus im dienstlichen Zeiterfassungssystem einbucht, die Arbeit aber tatsächlich erst später im Dienstgebäude aufnimmt.
Sachverhalt:
Der im Jahr 1983 geborene Kläger war bei der Beklagten seit dem 01. Juli 2005 als Assistent im Bearbeitungsservice beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis unterlag kraft einzelvertraglicher Bezugnahme dem Manteltarifvertrag für die Angestellten der Bundesagentur für Arbeit (MTA) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der jeweiligen Fassung. Der Kläger wohnte zusammen mit seiner Lebensgefährtin, die ebenfalls bei der Beklagten beschäftigt war. Seine Lebensgefährtin erbrachte ihre Arbeitsleistung zum überwiegenden Teil im Homeoffice. Der Kläger arbeitete grundsätzlich in Gleitzeit im Dienstgebäude des Jobcenters. Für mobiles Arbeiten benötigte der Kläger die Zustimmung seiner Führungskraft.
Die Arbeitszeiterfassung der Beschäftigten des Jobcenters war in der ab dem 01. Januar 2021 gültigen Dienstvereinbarung 02/2021 vom 10. Dezember 2020, die eine vorangegangene Dienstvereinbarung ablöste, wie folgt geregelt:
„Die Arbeitszeiterfassung erfolgt durch das System IT-Zeit-Web. (…) Die Zeiterfassung erfolgt grundsätzlich für alle Beschäftigten mittels digitaler Dienstkarte am Zeiterfassungsgerät oder online am PC. Alle Beschäftigten führen ihr Arbeitszeitkonto eigenverantwortlich. Aus dem Abrechnungszeitraum (01. Oktober - 30. September eines Jahres) dürfen im Regelfall bei Vollzeitkräften höchstens 40 Plusstunden oder 8 Minusstunden in den folgenden Abschnitt übertragen werden. Zeitschulden müssen spätestens am Ende des folgenden Abrechnungszeitraums ausgeglichen sein.“
Um sich vom PC aus im Zeiterfassungssystem anzumelden ist die Eingabe der Personalnummer und eines speziellen Kennworts erforderlich. Das gilt unabhängig davon, ob sich der Arbeitnehmer im Homeoffice oder an seinem Arbeitsplatz im Dienstgebäude anmeldet.
Aufgrund einer hohen Anzahl von Minusstunden führte der Geschäftsführer des Jobcenters Angang des Jahres 2020 mit dem Kläger ein Mitarbeitergespräch, in dem der Ausgleich dieser Minusstunden innerhalb eines bestimmten Zeitraums vereinbart wurde.
Nachdem der Teamleiterin des Klägers, die selbst in Teilzeit arbeitete, aufgefallen war, dass der Kläger trotz Vollbeschäftigung häufig später zur Arbeit erschien als sie, den Arbeitsplatz allerdings wiederum früher als sie verließ, prüfte sie nach Einschaltung der Personalvertretung seine Zeiterfassung im Oktober 2021. Nach ihren Notizen kam der Kläger am 25.10.2021 nach 08:09 Uhr und verabschiedete sich um 15:25 Uhr, am 26.10.2021 nach 07:25 Uhr und verabschiedete sich um 15:25 Uhr und am 27.10.2021 nach 08:00 Uhr und verabschiedete sich um 15:06 Uhr. Am 25.10.2021 begab sich die Teamleiterin in der Zeit von 07:35 bis 08:09 Uhr mehrmals zu dem Büro des Klägers, das sie jeweils verschlossen vorfand. Hinweise auf ein zwischenzeitliches Erscheinen bzw. eine Arbeitsaufnahme gab es auch nach Öffnung des Büros nicht.
Im Zeiterfassungssystem IT-Zeit-Web hatte der Kläger für den 25. Oktober 2021 online um 06:24 sein Kommen und um 8:10 Uhr sein Gehen gebucht, sodann über das Terminal um 8:11 Uhr sein Kommen, um 12:43 Uhr sein Gehen, um 13:01 Uhr wieder sein Kommen und um 15:22 Uhr wieder sein Gehen. Für den 26. Oktober 2021 hatte der Kläger sein Kommen online um 06:35 Uhr gebucht, über das Terminal sein Gehen um 12:39 Uhr, ein nochmaliges Kommen um 13:08 Uhr und ein nochmaliges Gehen um 15:25 Uhr. Für den 27. Oktober 2021 hatte der Kläger sein Kommen online um 06:24 Uhr gebucht, über das Terminal sein Gehen um 12:43, ein nochmaliges Kommen um 12:57 Uhr und ein nochmaliges Gehen um 15:08 Uhr.
Eine Kontrolle ergab, dass der Kläger seit Februar 2021 regelmäßig die erste oder sogar die ersten beiden Zeitbuchungen eines jeden Arbeitstages online vorgenommen und für die weiteren Buchungen das Terminal genutzt hatte. Mobile Arbeit leistete der Kläger im Jahr 2021 in Absprache mit seiner Führungskraft lediglich am 15.01.2021, 26.02.2021 und vom 29.11.2021 bis 10.12.2021, insbesondere also nicht im Zeitpunkt der stichprobenartigen Kontrolle im Oktober 2021. Es bestand daher der Verdacht, dass sich der Kläger bereits zu Hause über den Mobilarbeitszugriff seiner Lebensgefährtin eingebucht hat, obwohl er die Arbeit tatsächlich erst in der Dienststelle aufgenommen hat. Denn die "Kommen"-Onlinebuchungen des Klägers und die seiner Lebensgefährtin sind größtenteils zeitgleich bzw. mit einem geringfügigen Versatz von ein bis zwei Minuten erfolgt.
Zu dem Verdacht des Arbeitszeitbetrugs wurde der Kläger mehrfach schriftlich und mündlich angehört. In einem Personalgespräch zwischen dem Kläger und der Geschäftsführung der Beklagten räumte der Kläger den Verdacht schließlich ein und begründete sein Verhalten mit einem vermeintlichen Alkoholproblem.
Mit Schreiben vom 09.02.2022, dem Kläger zugegangen am 10.02.2022, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30.09.2022.
Der Kläger hat gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Stralsund erhoben. Diese wurde mit Urteil vom 27.07.2022 (Az.: 11 Ca 64/22) abgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung zum LAG Mecklenburg-Vorpommern eingelegt.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hatte keinen Erfolg.
Das LAG Mecklenburg-Vorpommern hielt die ordentliche Verdachtskündigung für rechtmäßig. Sie verstoße insbesondere nicht gegen § 1 KSchG, sondern sei aufgrund eines personenbedingten Kündigungsgrundes sozial gerechtfertigt.
Der Verdacht einer Pflichtverletzung stelle gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung tatsächlich begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Der Verdacht könne eine ordentliche Kündigung aus Gründen, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, bedingen (BAG Urt. v. 31.01.2019 - 2 AZR 426/18). Denn der schwerwiegende Verdacht einer Pflichtverletzung könne zum Verlust der vertragsnotwendigen Vertrauenswürdigkeit des Arbeitnehmers und damit zu einem Eignungsmangel führen, der einem verständig und gerecht abwägenden Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht (BAG Urt. v. 31.01.2019 - 2 AZR 426/18).
Eine Verdachtskündigung ist als ordentliche Kündigung nur sozial gerechtfertigt, wenn Tatsachen vorliegen, die zugleich eine außerordentliche, fristlose Kündigung gerechtfertigt hätten. Dies gilt zunächst für die Anforderungen an die Dringlichkeit des Verdachts als solchen. Der Verdacht muss auf konkreten, vom Kündigenden darzulegenden und gegebenenfalls zu beweisenden Tatsachen beruhen. Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöge. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen nicht aus (BAG Urt. v. 31.01.2019 - 2 AZR 426/18; LAG Köln Urt. v. 23.02.2022 - 11 Sa 339/21). Nötig sei jedoch stets, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Verdachtsmomenten gibt, um dessen Einlassungen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen zu können (BAG Urt. v. 31.01.2019 - 2 AZR 426/18).
Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schwerwiegenden Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit der am Gleitzeitmodell teilnehmenden Arbeitnehmer vertrauen können. Kommt der Arbeitnehmer dem nicht nach, so verletzt er damit in erheblicher Weise seine sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebende Rücksichtnahmepflicht (BAG Urt. v. 13.12.2018 – 2 AZR 370/18; BAG Urt. v. 26.09.2013 – 2 AZR 682/12; BAG Urt. v. 9.06.2011 – 2 AZR 381/10).
Eine vorherige Abmahnung war nach Ansicht des LAG Mecklenburg-Vorpommern entbehrlich. Die Pflichtverletzung des Klägers sei so schwerwiegend, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch die Beklagte nach objektiven Maßstäben unzumutbar und auch für den Kläger erkennbar ausgeschlossen sei. Die Erfassung von nicht geleisteter Arbeitszeit führe zu unberechtigten Lohnzahlungen. Der Arbeitgeber zahle aufgrund der Täuschung durch den Arbeitnehmer Arbeitsentgelt, dem keine Arbeitsleistung gegenübersteht. Die Täuschung über die geleistete Arbeitszeit stelle daher einen schweren Vertrauensbruch dar, der zudem strafrechtliche Folgen nach sich ziehen könne. Die zumindest einmalige Hinnahme einer solchen Täuschung, die zu einem Vermögensschaden nicht bestimmbaren Ausmaßes führt, könne der Beklagten nicht zugemutet werden. Dies hätte auch dem Kläger bewusst sein müssen. Die Beklagte als Arbeitgeberin müsse auf die korrekte Erfassung der Arbeitszeit vertrauen können, da sie bei einem Gleitzeitmodell - anders als bei festen Arbeitszeiten - die individuell unterschiedlichen Arbeitszeiten sonst nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand kontrollieren kann.
Aufgrund des dringenden Verdachtes sei es der Beklagten nicht zuzumuten, den Kläger über die Kündigungsfrist hinaus weiter zu beschäftigen. Es sei ihr insbesondere nicht zuzumuten, das drohende Risiko weiterer Schädigungen in Kauf zu nehmen. Denn im Falle einer Weiterbeschäftigung müsste sie die Arbeitszeiten des Klägers engmaschig und regelmäßig kontrollieren, was zu einem hohen Personal- und Kostenaufwand führen würde.
Praxishinweis:
Die Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern trägt in durchaus begrüßenswerter Weise dazu bei, dass sich das Rechtsinstitut der Verdachtskündigung weiter in der Rechtsprechung etabliert.
Gleichwohl ist die Verdachtskündigung aufgrund der für den Arbeitnehmer streitenden Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK sowie seiner Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG weiterhin an strenge Voraussetzungen gebunden, die das LAG Mecklenburg-Vorpommern in Anlehnung an die Rechtsprechung des zweiten Senates des Bundesarbeitsgerichts in der hiesigen Entscheidung nochmals schulmäßig herleitet und begründet.
Richtigerweise ordnet das LAG Mecklenburg-Vorpommern den vorliegenden Verdacht einer Arbeitszeitmanipulation jedoch als so schwerwiegend ein, dass dieser eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt hätte. Die vorliegende ordentliche Verdachtskündigung war daher ebenfalls rechtmäßig.
Insgesamt handelt es sich um eine begrüßenswerte Entscheidung, die verdeutlicht, dass einem Arbeitgeber, der seinen Arbeitnehmern durch die Etablierung eines Gleitzeit-Modells eine höhere Flexibilität bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit einräumt, seitens der Rechtsprechung wirksame Sanktionsmechanismen zur Verfügung gestellt werden, sollten die Arbeitnehmer den ihnen eingeräumten Spielraum missbrauchen.