Sondernewsletter Brexit 29. Juli 2016
Beratungsthemen im Zusammenhang mit einem drohenden Brexit: Kartellrecht/Beihilferecht
Der Bereich des Kartellrechts ist herkömmlich durch eine starke Interaktion zwischen nationalem Recht und EU-Wettbewerbsregeln, zwischen nationaler Rechtsprechung und der Jurisdiktion der europäischen Gerichte, zwischen der Verwaltungspraxis nationaler Kartellbehörden und derjenigen der Europäischen Kommission geprägt. Zugleich hat seit dem Beitritt des UK zum EWR am 1. Januar 1973 die englische Rechtstradition des Common Law mit seiner starken Orientierung am Case Law das vormals an deutscher wie französischer Dogmatik orientierte Kartellrecht stark mitgeprägt. Für Kartellrechtler ist der Brexit damit eine denklogische Herausforderung: Es ist kaum vorstellbar, EU-Kartellrecht in Zukunft ohne den Beitrag der britischen Kollegen zu betreiben. Hinzu kommt, dass im Bereich des Kartellrechts ein erheblicher Teil der gesamten Kommunikation inzwischen in englischer Sprache erfolgt und ein Großliteratur auf Englisch verfasst wird.
Kurzfristig dürften die Konsequenzen eines Brexit für die kartellrechtliche Praxis eher überschaubar sein. Führt man sich jedoch die mittel- bzw. langfristigen Konsequenzen eines Brexit vor Augen, erscheinen die potenziellen Erschwernisse für kontinentaleuropäische und britische Unternehmen doch recht gravierend:
Konsequenzen im Bereich der Fusionskontrolle
Mit dem künftigen Ausscheiden des UK aus dem EWR endet zunächst die Anwendung der EUFusionskontrolle in Bezug auf das UK. Der große Vorteil des „one stop shop“-Prinzips, bei Überschreitung der Fusionskontrollschwellen nach Art. 1 VO 139/2004 (FKVO) eine einheitliche Freigabeentscheidung aus Brüssel zu erhalten, wird damit in Bezug auf die wirtschaftliche Betätigung der Zusammenschlussparteien im UK zunichte gemacht. Nicht übersehen werden darf jedoch, dass das Fusionskontrollsystem im UK kein zwingendes Anmeldungserfordernis kennt, sondern als freiwillige Fusionskontrolle ausgestaltet ist. Damit spielte das UK im Bereich der Fusionskontrolle bereits bisher eine erhebliche Sonderrolle im Konzert der europäischen Fusionskontrollregimes. Sind damit die Konsequenzen im Hinblick auf Anmeldungserfordernisse im UK bei Fortbestand des britischen Freiwilligkeitssystems überschaubar, können sich für die Anwendung der EUFusionskontrollschwellen nach Art. 1 FKVO insoweit erhebliche Konsequenzen ergeben, als Umsätze der Zusammenschlussbeteiligten im UK nach einem Brexit nicht mehr einzubeziehen sind. Dies kann dazu führen, dass der Vorteil des „one-stop-shop“-Prinzips nicht nur in Bezug auf das UK entfällt, sondern dass insgesamt die Umsatzschwellen der EU-Fusionskontrolle nicht erreicht werden, mit der Folge, dass Fusionskontrollanmeldungen verpflichtend in einer ganzen Reihe von EU-Mitgliedstaaten durchzuführen sind.
Geltungsbereich des Kartellverbots
Im Bereich des Kartellverbots ist auf den ersten Blick wenigsten mit spürbaren Konsequenzen durch den Brexit zu rechnen. Bereits bisher existieren die Verbotsbereiche des Art. 101 EUVertrages, des Kartellverbots nach EU-Kartellrecht, und des UK Competition Act 1998 nebeneinander und umschreiben einen nahezu identischen Verbotsbereich. Während das Kartellverbot nach Art. 101 EU-Vertrages sich jedoch auf Vereinbarungen, abgestimmte Verhaltensweisen und/oder Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen bezieht, die geeignet sind, den zwischenstaatlichen Handel zu beschränken, gelten die nationalen Kartellrechtsordnungen gerade für entsprechende Verhaltensweisen unterhalb der Schwelle der Zwischenstaatlichkeit. Entwarnung im Hinblick auf die Anwendungsbereiche des EU-Kartellverbots und des Kartellverbots nach britischem Recht wäre gleichwohl verfrüht: In der Praxis definieren sich die Verbotsbereiche sehr stark nach den Gruppenfreistellungsverordnungen sowie den Leitlinien und Bekanntmachungen der EUKommission. Soweit die Gruppenfreistellungsverordnungen, Leitlinien und Bekanntmachungen bislang unter britischer Beteiligung zustande gekommen sind, sehen wir lediglich ein überschaubares Risiko, dass sich das UK nach einem Brexit ohne weiteres von der Geltung dieser Regelungen verabschieden wird. Ob London aber ohne weiteres die Regelungen übernehmen wird, die nach Wirksamwerden des Brexit in der EU verabschiedet werden, darf bezweifelt werden. Damit entfällt der Vorteil der Harmonisierung des Kartellverbots. Die Konsequenzen im Vollzug des Kartellverbots treffen sowohl britische wie kontinentaleuropäische Unternehmen: Werden britische Unternehmen nach einem Brexit in Kontinentaleuropa tätig und wirken sich Wettbewerbsbeschränkungen im EU-Binnenmarkt aus, unterliegen auch britische Unternehmen nach dem Brexit der Vollzugsgewalt der Europäischen Kommission und können für ihre Verstöße gegen EUKartellrecht regulär bebußt werden. Kontinentaleuropäische Unternehmen müssen nach einem Brexit darauf achten, die potenziell vom EU-Kartellrecht abweichenden britischen Kartellrechtsregeln zu beachten, wenn sich ihr Verhalten im britischen Markt auswirkt. Dies wird insbesondere durch die starke Orientierung des Common Law am Case Law nicht gerade erleichtert.
Weitaus gravierender noch als die Konsequenzen im materiellen Bereich erscheinen die Auswirkungen eines Brexit für den Vollzug des Kartellverbots auf der Verwaltungsebene. Während Unternehmen innerhalb des EU-Binnenmarktes vor parallelen Untersuchungen der Europäischen Kommission und der nationalen Kartellbehörde geschützt sind und Doppel-Bebußungen innerhalb des EWR aufgrund des Grundsatzes „ne bis in idem“ nicht erfolgen können, entfällt dieser Vorteil in Bezug auf das UK mit einem Ausscheiden aus dem EWR. Damit wird nicht nur der Bußgeldrahmen zweimal eröffnet. Darüber hinaus sehen sich Unternehmen auch zeitaufwändigen und kostspieligen Untersuchungen durch die UK Competition and Markets Authority (CMA) einerseits und nationale kontinentaleuropäische Behörden bzw. die Europäische Kommission andererseits gegenüber. Freilich mögen britische Unternehmen es als Vorteil ansehen, wenn die Europäische Kommission in Zukunft keine Dawn Raids im UK mehr durchführen können wird. Umgekehrt muss die britische Kartellrechtspraxis aber damit leben, dass die CMA – jedenfalls bei dem hier gedanklich vorausgesetzten vollständigen Brexit – nicht mehr Mitglied im europäischen Netzwerk der Kartellbehörden ECM sein wird. Ob schließlich die Attraktivität des Gerichtsstands UK bzw. England für Follow-on-Schadenersatzklagen bei Verstößen gegen das Kartellverbot nach EU-Recht bewahrt werden kann, bleibt abzuwarten. Insoweit spielt die Vollstreckbarkeit von Gerichtsentscheidungen aus dem UK in der EU eine entscheidende Rolle. Umgekehrt ist nicht klar, in welchem Umfang britische Gerichte ihren Follow-on-Schadenersatzverfahren Entscheidungen der Europäischen Kommission oder der kontinentaleuropäischen nationalen Kartellbehörden als verbindlich zugrunde legen werden. Vor diesem Hintergrund entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die nach langen Diskussionen im Jahr 2014 verabschiedete EU-Kartellschadenersatzrichtlinie in erheblichem Umfang britischen Verfahrensvorstellungen Raum gibt.
Konsequenzen im Bereich des Beihilferechts
Mit dem Austritt aus der EU unterliegt das UK nicht mehr dem Beihilfeverbot des Art. 107 EUVertrages. Dieses soll verhindern, dass der Wettbewerb von Unternehmen oder ganze Wirtschaftszweige durch staatliche Begünstigungen beeinträchtigt oder gar verzerrt werden. Beihilferechtlich könnte der EU-Austritt damit größere Freiheiten für die britische Regierung schaffen, Unternehmen im eigenen Land finanziell zu fördern und damit die Attraktivität des Standorts voranzubringen. Sollte sich dagegen ein Assoziierungsmodell nach norwegischem oder Schweizer Vorbild durchsetzen, ist eher wahrscheinlich, dass die Bindung an das EU-Beihilferecht auch nach Vollzug des Brexit weitgehend bestehen bleibt. Allerdings müsste sich die Regierung des UK dann fragen lassen, ob die politisch beabsichtigte größere Flexibilität durch den Brexit dann tatsächlich erreicht wird.