zuerst erschienen in Dispute Resolution im Juni 2015
Wikipedia allein reicht nicht
Im Blickpunkt: Das Internet – Wegbereiter richterlicher Tatsacheninquisition im Zivilprozess?
Einleitung
Die Verlockung ist für den Richter groß, das Internet, die unerschöpflich erscheinende Erkenntnisquelle, nicht nur zur Rechts- und Urteilsrecherche zu nutzen, wie sie aus dem Berufsalltag eines jeden Juristen nicht mehr wegzudenken ist, sondern auch dazu, lückenhaften Parteivortrag durch eigene Tatsachenrecherchen zu ergänzen oder sich aufschlussreiches Hintergrundwissen zum Fall zu erschließen. So erscheint das Internet geradezu als eine Einladung, anstelle eines zeitaufwendigen Ortstermins Google Earth oder Google Streetview zu nutzen, um sich mit örtlichen Gegebenheiten eines Verkehrsunfalls vertraut zu machen. Gleichermaßen naheliegend erscheint es, Wertermittlungen mittels einer Internetrecherche durchzuführen, um sich ein aufwendiges und teures Sachverständigengutachten zu ersparen. Überhaupt laden verschiedene Internetenzyklopädien dazu ein, sich fehlende Sachkunde hierüber zu verschaffen. Und soziale Netzwerke sowie Homepages scheinen eine unerschöpfliche Quelle für all diejenigen Informationen zu sein, welche die Parteien in ihrem Vortrag mehr oder weniger kunstvoll verschweigen und nebulös zu umschreiben versuchen, da diese für sie vermeintlich von Nachteil sind. Der Richter, der das Internet so nutzt, kann regelmäßig mit der von ihm allseits verlangten schnellen und effizienten Erledigung des Falls glänzen. Die angesichts angespannter öffentlicher Haushalte Sparzwängen unterliegende Ressource „Justiz“ wird effizient eingesetzt. Dies hat für viele bereits einen Wert für sich. Aber lässt die Zivilprozessordnung (ZPO) eine solche Praxis zu?
Zivilverfahrensrechtliche Erlaubnis zum „Surfen“?
Prima facie scheint dies nicht der Fall zu sein. Im Zivilprozess gilt der Beibringungsgrundsatz, nach dem der Richter nur Tatsachenstoff verwerten darf, den die Parteien vorgetragen haben, sowie Beweise die – von Ausnahmen abgesehen – nur auf Antrag gesammelt werden dürfen. Jedoch macht die herrschende Ansicht für allgemeinkundige Tatsachen hiervon eine gravierende Ausnahme. Diese soll das Gericht auch von Amts wegen in den Prozess einführen dürfen. Es stellt sich damit die Frage, ob diese Ausnahme angesichts des allwissenden World Wide Webs zur Regel wird und der sonst aus dem Zivilprozess bislang verbannte Inquisitionsgrundsatz quasi durch die „Hintertür“ des Internets doch noch Eingang in den Zivilprozess findet.
Inhalt des Internets stets allgemeinkundige Tatsachen?
Grund genug, noch einmal die These zu beleuchten, ob jede Tatsache, die im Internet veröffentlicht ist, wirklich allgemeinkundig ist. Allgemeinkundig sind nach der grundlegenden Definition des Bundesverfassungsgerichts Tatsachen, die in einem größeren oder kleineren Bezirk einer beliebig großen Menge bekannt sind oder wahrnehmbar waren und über die man sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde unterrichten kann (BVerfGE 10, 177, 183). Nach einer vereinfachenden Definition des schweizerischen Bundesgerichts ist allgemeinkundig, was jedermann, der eine gewisse Ausbildung hat, als sicher bekannt ist (BGE 117 II 321, 323). Nach § 291 ZPO bedürfen offenkundige, also allgemeinkundige und gerichtsbekannte Tatsachen keines Beweises. Diese Befreiung vom Beweiszwang findet ihre Rechtfertigung im Grundsatz der Prozessökonomie. Der Beweis von Allgemeinwissen ist unnötig und überflüssig. Dasjenige, was „jedermann“ weiß, braucht nicht bewiesen zu werden. Anhand einer allgemein zugänglichen Quelle mag man sich in der Nachschau nur noch einmal vergewissern, dass es tatsächlich so ist.
Allgemeinzugänglichkeit schafft kein Allgemeinwissen
Das Internet macht Informationen zwar allgemein zugänglich. Dadurch sind sie jedoch noch nicht (präsentes) Allgemeinwissen einer beliebig großen Menschenmenge geworden. Dennoch wird vielfach der Rückschluss von der durch das Internet gewährten Allgemeinzugänglichkeit von Informationen für eine beliebige Vielzahl von Menschen auf ein Allgemeinwissen gezogen. Maßgebend für eine allgemeinkundige Tatsache wäre damit allein, ob sich eine Vielzahl von Menschen unschwer anhand allgemein zugänglicher Quellen zuverlässig informieren kann. So naheliegend dieser Rückschluss auf den ersten Blick auch sein mag, so wertend ist er auf den zweiten. Denn damit wäre durch die allgemein zugängliche Informationsquelle Internet grundsätzlich jede dort veröffentlichte Information allgemeinkundig, sofern deren Quelle zuverlässig ist. Ein solcher Befund hängt von der qualitativen Bewertung der Quelle ab. Das Kassationsgericht Zürich hat daher an Informationsquellen allgemeinkundiger Tatsachen verschiedene qualitative Anforderungen gestellt. Danach muss die Quelle zuverlässig sein, sich über Jahre hinweg bewährt haben, ohne Fachkenntnis wahrnehmbar sein und entsprechend soziale Anerkennung finden [KassG Zürich Bl. f. ZürchRspr. 110 (2011) Nr. 17]. Und so überrascht es nicht, dass auch hierzulande in Kommentaren und Aufsätzen problematisiert wird, ob die Internetenzyklopädie Wikipedia die erforderliche Qualität für einen Rückschluss auf eine allgemeinkundige Tatsache bietet oder nicht. Angesichts des Umstands, dass jedermann an Beiträgen dort mitwirken kann und von einigen regelrecht ein Sport daraus gemacht wird, den Zeitraum zu messen, bis absichtlich in Artikel eingefügte Fehler durch fachkundige Idealisten korrigiert werden, kann ein solches Format nur eine geeignete Quelle für solche Informationen sein, die bereits Allgemeinwissen sind und mithin von einer entsprechend großen Menschenmenge kraft ihres präsenten Wissens auf ihre Richtigkeit hin regelmäßig überprüft werden können. Nur der Wissende kann die inhaltliche Richtigkeit des Beitrags und der darin enthaltenen Informationen beurteilen. Die Allgemeinzugänglichkeit von Informationen macht diese mithin nicht zum Allgemeinwissen. Hinzukommen muss, dass man ohne großen Aufwand deren Richtigkeit selbst überprüfen kann, sofern diese nicht anderweitig gewährleistet ist. So verhält es sich beispielsweise bei statistischen Zahlen. Schwerlich wird man behaupten können, dass diese jedermann bekannt und somit Allgemeinwissen sind. Dennoch kann sich jeder ohne großen Aufwand und mit entsprechender Richtigkeitsgewähr auf der Website des Statistischen Bundesamtes über sie informieren. Diese Unterscheidung zwischen Allgemeinwissen auf der einen und der vereinfachten Beweisführung anhand allgemein zugänglicher Informationsquellen auf der anderen Seite hindert den Richter daran, durch „Surfausflüge“ ins Netz eigene Tatsachen zu ermitteln, um Klagen schlüssig oder Einwendungen erheblich zu machen, deren Richtigkeit er weder kraft eigenen Wissens selbst überprüfen kann noch anderweitig gewährleistet wird. Diese Unterscheidung verbietet es ihm auch, das Netz mit detektivischem Eifer nach allgemein unbekanntem „Hintergrundwissen“ zu durchstöbern, das ihm im Vortrag der Parteien vorenthalten wird. Macht er es dennoch, setzt er sich dem Vorwurf der Voreingenommenheit und Parteilichkeit aus, was seine Ablehnung wegen Befangenheit begründen kann.
Klärung der Allgemeinkundigkeit und Gewährung rechtlichen Gehörs
Dies alles zeigt aber bereits, dass die Feststellung, ob eine Tatsache allgemeinkundig ist, dem Richter mitunter erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. Gerade in Fällen, in denen sich keine Partei auf die (vermeintlich) allgemeinkundige Tatsache beruft, muss das Gericht diese Tatsachen zur Gewährung rechtlichen Gehörs zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung machen. Den Parteien muss die Möglichkeit gewährt werden, die vom Gericht angenommene Offenkundigkeit zu widerlegen und Missverständnisse auszuräumen. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht bereits in anderem Zusammenhang schon im Jahr 1959 entschieden (BVerfGE 10, 177, 183 f.).
Beweisführung mittels Inhalten aus dem Internet
Der Richter kann das Internet zwar nicht dazu nutzen, um für die Subsumtion unter einen rechtlichen Obersatz fehlende – nicht allgemeinkundige – Tatsachen selbständig zu ermitteln. Er kann aber streitigen Tatsachenvortrag der Parteien mit Hilfe des Internets überprüfen. Mit anderen Worten geht es um die Nutzung des Internets als Beweismittel. So mag es beispielsweise im jeweiligen Einzelfall tatsächlich ausreichen, die örtlichen Gegebenheiten mittels Google Earth zu betrachten. Der Inhalt des Internets ist Augenscheinobjekt gemäß § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Der Beweis ist entsprechend den Vorschriften zum Augenscheinbeweis zu erheben und nicht durch Vorlage von Ausdrucken von Internetseiten. Dieser ist mithin unmittelbar und in Anwesenheit der Parteien zu erheben.
(§ 357 ZPO). Insoweit ist der Grundsatz des Strengbeweises zu berücksichtigen, der den Richter daran hindert, die Inaugenscheinnahme allein und unter Ausschluss der Parteien vorbereitend in seinem Dienstzimmer zu erledigen. Und das Einholen von Expertisen kann auch nicht derart missverstanden werden, dass hierdurch ein beantragtes Sachverständigengutachten durch den bloßen Blick ins Netz ersetzt werden kann. Denn dann ist man wieder bei der um Wikipedia bereits entbrannten Diskussion angelangt, inwieweit diese Quelle geeignet ist, dem Richter die entsprechende Sachkunde zu vermitteln. Die bloße Übernahme von Ausführungen aus Internetenzyklopädien reicht hierzu nicht aus. Deren Qualität kann mangels Richtigkeitsgewähr wiederum nur der bereits Sachkundige bewerten. Ein beantragtes Sachverständigengutachten zur fachlichen Würdigung streitigen Vorbringens kann mithin nicht durch einen richterlichen „Surfausflug“ ins Internet ersetzt werden, indem sich der Richter qualitativ fragwürdige Sachkunde aneignet.
Fazit
Das Internet eröffnet Chancen und Möglichkeiten, einen Rechtsstreit schnell und effizient erledigen zu können. Dabei sind jedoch die zivilprozessualen Grundsätze, wie der Beibringungsgrundsatz, der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs, das Recht auf Beweis und der Grundsatz des Strengbeweises zu beachten. Diese verhindern, dass eine umfassende richterliche Tatsacheninquisition über das Internet in den Zivilprozess Einzug hält. Allerdings ist die Verlockung groß, die strenge Handhabung dieser Grundsätze zu lockern, um andere vermeintlich hehre Ziele, wie dasjenige einer effizienten und schnellen Fallzahlerledigung, leichter erreichen zu können. Dabei darf aber Schnelligkeit nicht auf Kosten der Qualität gehen. Die bislang bewährte Prozesskultur darf trotz dieser begrüßenswerten und effizienzsteigernden Errungenschaften nicht dazu verkommen, dass sie in eine Tatsacheninquisition abgleitet. Um dies zu vermeiden, sind sowohl Anwälte als auch Richter zur sachgemäßen Handhabung aufgerufen.
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